© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Vergangen, vergessen, fast vorüber
Ehemalige deutsche Schutzgebiete heute: Zwischen Wirtschaftsmisere, Reparationsforderungen und Bierseligkeit
Marc Zoellner

Deutschland und seine ehemaligen Schutzgebiete Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Neuguinea, Samoa oder Kiautschou: Vergangen, vergessen, vorüber? Mitnichten. Zwar endete vor knapp hundert Jahren in Versailles die kurze deutsche Kolonialgeschichte. Doch Architektur oder Kultur überlebten vielfach die Jahrzehnte.

 Namibia (Deutsch-Südwest) fällt dabei aus dem Rahmen. Die Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama durch deutsche Schutztruppen ist bis heute brisant. „Wir haben ein besonderes Verhältnis mit Namibia aufgrund der Verbrechen der Jahre 1904 bis 1908. Dem müssen wir gerecht werden“, erklärte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) Anfang September 2019 im Gespräch mit der Münchner Abendzeitung. „Die damaligen im deutschen Namen begangenen Greueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde“, erklärt auch das Auswärtige Amt (AA). Ziel der Bundesregierung sei es, um Vergebung für das Geschehene zu bitten. Eine rechtliche Grundlage für materielle Ansprüche, seien es Entschädigungszahlungen oder Reparationen, bestehe nicht, so das AA.

Dennoch hatten Vertreter der Nama und Herero in New York eine Sammelklage gegen Deutschland eingereicht, mit der Schadensersatz durchgesetzt werden sollte. Im März 2019 wurde die Klage vom zuständigen US-Gericht als unzulässig abgewiesen, da amerikanische Gerichte wegen des Grundsatzes der Staatenimmunität für die Klage keine Gerichtsbarkeit besitzen. Diese Entscheidung bestätigt nach Ansicht des AA die Position Berlins. 

Neben der Rückgabe von Kunst- und Kulturgegenständen (u.a. Kreuzkapsäule) ist die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit für Berlin„tragende Säule der besonderen“ Beziehungen zwischen beiden Staaten. Seit 1990 stellte Deutschland hierfür rund eine Milliarde Euro zur Verfügung. 

Doch seit 2016 leidet Namibias Wirtschaft, die fast ausschließlich auf Bergbau und Landwirtschaft beruht, unter einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Namibier sehen die Schuld dafür im kolonialen Erbe ihres Landes begründet. Entprechend verprach Präsident Hage Gottfried Geingob (Swapo) seinen Wählern,  bis Ende 2020 43 Prozent der weißen Farmen an Schwarze umzuverteilen – notfalls auch mittels Gewalt.





Tsingtao

Idyllisch gelegen zwischen überwachsenen Kohleflözen und paradiesischen Sandstränden, platzt die Hafenstadt an der Nordostküste Chinas förmlich aus allen Nähten: Zählte die gesamte deutsche Vorzeigekolonie um 1900 gerade einmal rund 60.000 Einwohner, hat sich ihre Anzahl bis 2018 auf über sechs Millionen mehr als verhundertfacht. 

Bereits in der von deutschen Auswanderern 1903 gegründeten Germania Brauerei (seit 1916 Tsingtao Brauerei), der heute sechstgrößten Brauerei der Welt, arbeiten derzeit gut 45.000 Menschen. Auch der Hafen, auf der Forbes-Liste als sechstgrößter der Welt gezählt, kann mit den Modernisierungsansprüchen kaum noch Schritt halten – seit 2003 hat sich der Lastenumschlag auf 15,5 Millionen Container pro Jahr verfünffacht.

Noch immer zieren deutsche Baustile die Skyline Qingdaos. Auf ihre exotische Bauweise sind die Einwohner besonders stolz. 

Auch sonst bleibt Deutschland weiter der wichtigste europäische Handelspartner der Stadt: Rund 2,4 Milliarden US-Dollar betrug das Handelsvolumen beider Parteien im vorletzten Jahr. 

Qingdao, dessen Wirtschaft jährliche Wachstumsraten von bis zu 19 Prozent verzeichnet, lockte bereits über 350 deutsche Investoren ins Reich der Mitte – vom 2018 eröffneten Volkswagen-Werk für Elektromobile bis hin zum Sino-German Ecopark, einem deutsch-chinesischen Joint Venture zur Erforschung nachhaltiger ökologischer Produktionsweisen.

 Zu feiern weiß man im „Hollywood Chinas“, dem Sitz des größten Produktionsstudios der Welt, übrigens auf klassisch deutsche Art: jedes Jahr im August auf dem „Qingdao Beer Festival“, dem „Oktoberfest Asiens“.





Kamerun

Kaum ein Staat leidet noch heute derart unter den willkürlichen Grenzziehungen der Kolonialzeit wie das zentralafrikanische Kamerun im Hinterland des gleichnamigen aktiven Vulkans: Nach ihrem Sieg im Ersten Weltkrieg hatten Frankreich und Großbritannien die eroberte deutsche Kolonie im Versailler Vertrag untereinander aufgeteilt und in ihrer jeweiligen Sprache verwaltet. 1961 wurde die beiden Gebiete wiedervereint – die englischsprachige Minderheit Südkameruns fühlt sich seitdem jedoch von der frankophonen Bevölkerungsmehrheit diskriminiert und fordert ihre Selbständigkeit als „Republik Ambazonien“. Im Herbst 2017 eskalierten die Proteste der Ambazonier: Aus dem nigerianischen Exil verkündete Separatistenführer Sisiku Tabe am 1. September 2017 die Unabhängigkeit Ambazoniens. In Südkamerun töteten Regierungstruppen daraufhin Dutzende Demonstranten. Wenige Tage später gründeten die Separatisten die Ambazonia Defence Forces (ADF) als bewaffneten Arm ihrer Bewegung. Und am 30. November 2017 folgte schließlich die Kriegserklärung von Präsident Paul Biya, der Kamerun seit 1982 regiert, an die südlichen Provinzen.

Bis heute starben in diesem international kaum beachteten Konflikt über 3.000 Menschen. Über eine halbe Million Zivilisten, mehrheitlich englischsprachige Ambazonier, sind zwischen Kamerun und Nigeria auf der Flucht. Und ein Ende des Krieges ist längst nicht in Sicht: Ende Dezember 2019 gewährte Kameruns Parlament dem Südkamerun zwar einen Sonderstatus. Eine geringere Lösung als die vollständige Unabhängigkeit, erklärten die Rebellen just im Anschluß, würden die Ambazonier jedoch nicht akzeptieren – und kündigten eine komplette Ausgangssperre für sämtliche Bewohner der vom Bürgerkrieg betroffenen Regionen an, um die für Februar angesetzten Kommunalwahlen systematisch zu boykottieren.





Papua-Neuguinea

Es war ein Sieg der Separatisten im einstigen Deutsch-Neuguinea: Neun Jahre lang hatte die Bougainville Revolutionary Army in ihrem zwischen 1988 und 1997 währenden blutigen Bürgerkrieg für eine Unabhängigkeit der kleinen, am östlichsten Rand der Pazifikrepublik gelegenen Insel Bougainville vom Rest des Landes gestritten. Über 20.000 Menschen fanden den Tod in Kämpfen, die zum Großteil noch mit Speeren, Bögen und Messern geführt wurden. 

Erst der gescheiterte Einsatz der südafrikanischen „Sandline“-Söldnertruppe durch die Regierung der Hauptstadt Port Moresby brachte den Insulanern ein Friedensabkommen – und im Dezember 2019 schließlich das Referendum um die Unabhängigkeit, welche 98 Prozent der Wähler befürworteten.

Im Vielvölkerstaat Papua-Neuguinea, wo allein 900 der 6.000 Sprachen dieser Welt gesprochen werden – darunter auch das kreoldeutsche „Unserdeutsch“ – entsteht mit Bougainville nun das jüngste Land der Erde: bettelarm und abgeschieden, doch mit einer reichen Kupfermine im Besitz, die einst beinahe die Hälfte der Exporteinnahmen Papua-Neuguineas ausmachte. 

Mit China sitzt bereits ein erster Investor zum Neubetrieb des Tagebaus am Start. Gut anderthalb Milliarden US-Dollar hat Peking den Insulanern als Investitionsmasse für einen neuen Hafen, einen Flughafen, neue Straßen und Brücken sowie ein Luxusresort versprochen, sollte den Chinesen das Exklusivrecht am Kupfer vermacht werden. 

Durch diesen Fesselvertrag, mahnen Kritiker, könnte Bougainville jedoch zur jüngsten Kolonie Chinas direkt vor der Küste Australiens werden.





Tansania

Er galt als Hoffnungsträger seines Landes: Mit den Versprechen, die grassierende Korruption im einstigen Deutsch-Ostafrika entschieden zu bekämpfen, die hohe Arbeitslosenquote von über zehn Prozent drastisch zu senken sowie die Effizienz der Lokalverwaltungen zu steigern, war der ehemalige Arbeitsminister John Magufuli im Oktober 2015 zur Präsidentschaftswahl angetreten – und sogleich mit überragenden 58 Prozent aller Stimmen zum Staatsoberhaupt gewählt worden.

 Nach langen Jahren der Stagnation des 55 Millionen Einwohner zählenden Landes setzten besonders ausländische Investoren ihre Hoffnung in den charismatischen Populisten der seit 1977 durchweg regierenden Chama Cha Mapinduzi (CCM), der demokratisch-sozialistischen Partei der Revolution. Fünf Jahre später, am Vorabend der kommenden Präsidentschaftswahl von 2020, herrscht in Tansania jedoch Katerstimmung.

Zwar wächst die Wirtschaft kontinuierlich um gute sieben Prozent pro Jahr. Seine Zielsetzung, Tansania bis 2025 in ein Land mittleren Einkommens umzuwandeln, dürfte Magufuli trotz alledem verfehlen. Der Arbeitsmarkt stagniert, für seine Mammutprojekte eines landesweiten Eisenbahnnetzes sowie eines Megastaudamms im Selous-Wildreservat finden sich keine Geldgeber, und bereits ansässige Investoren aus der Bergbaubranche lassen sich reihenweise auszahlen, seit die Regierung 2017 die Fördersteuer auf bis zu 50 Prozent erhöht hat. 

Menschenrechtler zeigen sich erschüttert über das massenhafte Verschwinden oppositioneller Politiker und kritischer Journalisten. Magufulis Wiederwahl 2020 steht überdies in Frage: Die CCM regte vergangenen August bereits an, die benötigten Gelder lieber in Armenhilfe als in die Ausrichtung einer weiteren Präsidentschaftswahl zu stecken.