© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Bewahrer und Verteidiger des Hergekommenen
Ein sehr strenger Freund seines Volkes: Dem Schriftsteller und Lyriker Rudolf Borchardt zum 75. Todestag
Wolfgang Müller

Über die letzten Minuten im Leben Rudolf Borchardts sind wir gut unterrichtet. Nach Atem ringend, so schrieb es seine Frau Marie Luise ihrer Schwester, sei er am späten Nachmittag des 10. Januar 1945 in ihr Zimmer im Alpenhotel Trins mehr hineingefallen als eingetreten, um für einen Gast etwas von seinem Tabak zu holen, den er auf einem Schrank deponiert hatte. Nach kurzer Rast auf dem Fußboden, ein ihm angebotenes Präparat zur Behandlung akuter Herzanfälle ablehnend, stieg Borchardt auf einen Stuhl, nach der Tabakbüchse greifend. „Als ich mich wieder umsah[,], war er neben dem Stuhl und sank lautlos Corne[lius, seinem ältesten Sohn] in die Arme – er röchelte noch furchtbar[,] wurde blau am Hals – und es war aus. Eine Ärztin war im Haus – versuchte gleich die künstliche Atmung[,] aber es war aus – ganz aus.“

Das Sprachgenie Borchardt, Dichter, Übersetzer, Essayist, Rhetor und Pamphletist, der wortgewaltigste Streiter unter den gegen die 1918 etablierte „Herrschaft der Minderwertigen“ (so sein Anwalt und Freund Edgar J. Jung, 1927) wütenden „konservativen Revolutionären“, hatte mit seiner Frau und drei Söhnen das Notquartier am Brenner nicht aus freien Stücken bezogen. Allerdings war er ebensowenig, wie die New York Times Anfang November 1944 in einer Hollywood-Mixtur aus Dichtung und Halbwahrheit kolportierte, nach der NS-Machtübernahme ins italienische Exil ausgewichen und dort während des Rückzugs deutscher Truppen aus dem Land des einstigen „Achse“-Partners von der SS entführt („was captured by SS“) worden. Denn der 1877 in der Stadt der reinen Vernunft geborene Poeta doctus, Praeceptor Germaniae, Monarchist und preußische Protestant, der seinem Privatmythos zufolge gern dem „Königsberger Judentum der Kreuznahme“ entstammen wollte, erlebte bis zuletzt nie „rassische Verfolgung“ – auch dank der Hilfe des deutschen Konsuls in Florenz, der ihm den nach den Nürnberger Rassengesetzen obligaten J-Stempel im Reisepaß ersparte.

So blieb der von seinen zahllosen Feinden aus dem linken Lager als „metaphysischer Feldwebel“ und „aristokratischer Faschist“ geschmähte Borchardt, seit 1903 in toskanischen Villen residierend, unter dem Regime des von ihm maßlos überschätzten „Duce“ Benito Mussolini unbehelligt in seiner der Bewahrung und Verteidigung des Hergekommenen gewidmeten Gelehrten- und Poetenexistenz. Die erst endete, als ein neuer Eigentümer im Dezember 1942 den Auszug aus der geliebten Villa Bernardini in Saltocchio nahe Lucca und die Übersiedlung ins kleinere Obdach in Forte dei Marmi erzwang. 

Dort geriet die Familie Borchardt dann in den Strudel des Krieges, nachdem die Alliierten im Januar 1944 bei Anzio und Nettuno auf dem italienischen Festland Fuß gefaßt und sich bis zum Sommer nach Rom und in die Toskana vorgekämpft hatten. Für Borchardts bestand die Möglichkeit, deren Ankunft in einem Partisanenversteck zu erwarten. Doch eine Kette von Fehlentscheidungen und unglücklichen Zufällen führte schließlich dazu, daß sie sich dem Richtung Norden windenden Heerwurm der Wehrmacht anschließen mußten, der sie im September 1944 in Verona ausspuckte, von wo es dann „heim ins Reich“ nach Innsbruck und hinauf zum Brenner nach Trins ging.

Mit einer Wiederannäherung an Person und Werk des in der alten Bundesrepublik nahezu vergessenen Rudolf Borchardt tat man sich lange nach 1945 schwer. Wandel schuf die in den 1990ern beginnende, vom unermüdlichen Gerhard Schuster besorgte, 2014 mit dem dreibändigen Ehebriefwechsel (JF 11/15) vorerst abgeschlossene Edition der Briefe Borchardts. Sie ging  einher mit einem auffrischenden ideengeschichtlichen Interesse an der ästhetischen wie politischen Opposition des kulturkritischen Dreigestirns der großen konservativen Anti-Modernen Borchardt, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal.

Hausheiliger von Botho Strauß

Zudem übten Botho Strauß’ leise, aber nicht überhörbare Empfehlungen seines Hausheiligen ihren werbenden Einfluß aus, so daß der Springer-Journalist Richard Herzinger schon vor der Renaissance des von Novalis über Borchardt zu Strauß reichenden, von romantischen „Dichter-Sehern“ befeuerten „deutschen Antimodernismus“  warnte. Falscher Alarm, wie sich kürzlich herausstellte, da ein schadenfrohes Schenkelklopfen durchs Feuilleton hallte, das die Publikation des im Borchardt-

Nachlaß entdeckten Altersromans „Weltpuff Berlin“ begleitete. Der hohe Herr, so ließ sich erleichtert feststellen, der sich als Retter jener Deutschen empfahl, die sich für ihn nach 1918 immer enthemmter der liberalkapitalistischen Auflösung und dem Werteverfall anheim gaben, der als „ein Freund, aber ein strenger Freund meines Volkes“ den politisch-moralischen Zuchtmeister gab, durfte jetzt als „Schwein wie wir“ im Koben begrüßt werden.

Tatsächlich sind die Vermittlungshürden für einen Intellektuellen, dessen Werk sich an den Leitbegriffen Volk, Nation, Vaterland ausrichtet, der die Deutschen als politischer Theologe und Geschichtsdenker penetrant an ihre europäische Verantwortung erinnert und der auf die Bewahrung des antiken und christlich-mittelalterlichen Erbes pocht, in den letzten dreißig Jahren, ungeachtet verstärkter Rezeptionsbemühungen, schier unüberwindbar geworden. Oder läßt sich ein Schneeflöckchen-Seminar an nur einer deutschen Universität denken, das nicht in panischem Schrecken kopflos auseinanderliefe, sobald der Dozent aus Borchardts Rede über „Schöpferische Restauration“ (1927) jene Passage zitierte über die modernen Deutschen als „Halbmenschen- und Viertelsmenschenwesen ohne Nationalität, ohne Erinnerung an eine Vorzeit, ja fast ohne Väter, und in nichts anderem als dem Wahlrecht und der Steuerpflicht dazu befähigt, Teil eines Volkes zu sein“?