© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Grenzöffnung 2015
Fortgesetzter Rechtsbruch
Ulrich Vosgerau

In den Massenmedien ist viel davon die Rede, es habe eine „Grenz­öffnung“ nie gegeben, sondern die Grenze sei unter dem Ansturm von Asylbewerbern zwischen Sommer 2015 und Frühjahr 2016 nur nicht geschlossen worden, was übrigens auch dem geltenden Unionsrecht entspreche. Das ist nicht richtig. „Grenzöffnung“ bedeutet, daß die deutschen Behörden Menschen einlassen, die – rein rechtlich gesehen – an der Grenze abgewiesen werden müßten.

Bis zum 13. September 2015 galt das Schengen-System, nach dem systematische Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen nicht durchgeführt werden durften. Das heißt, Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten durften auch vorher nicht nach Deutschland einreisen oder sich freizügig in der EU bewegen, aber die Durchsetzung dieses Verbots war eben faktisch weithin unmöglich. Seit dem 13. September 2015 gilt mit Einverständnis und Unterstützung der EU-Kommission jedoch an deutschen Grenzen der Schengen-Notstand, das heißt systematische Kontrollen sind – rein rechtlich – wieder vorgesehen. Demzufolge müßte praktisch jeder Asylbewerber an der Grenze abgewiesen werden, sei es, weil er über keine gültigen Reisedokumente verfügt oder sei es, weil er aus einem sicheren Drittstaat einreisen will, um einen Asylantrag zu stellen. Dies geschieht aber nicht. Eben darin besteht die Grenzöffnung, und sie dauert bis heute an. Gegenwärtig reisen schätzungsweise knapp 200.000 Personen im Jahr über faktisch offene Grenzen zumeist illegal nach Deutschland ein.

Das in der Dublin-III-Verordnung geregelte unionsrechtliche Asylzuständigkeitssystem sieht vor, daß in der Regel immer der Ersteinreisestaat (also z. B. Griechenland) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Von diesem Prinzip sind in bestimmten Einzelfällen Ausnahmen vorgesehen; auch dies kann jedoch nicht dazu führen, daß ein hiervon begünstigter Asylbewerber eigeninitiativ nach Deutschland einreisen dürfte, sondern er würde dann nach der entsprechenden amtlichen Feststellung im Ersteinreisestaat sowie nach Konsultation und mit Einverständnis der deutschen Stellen ordnungsgemäß überstellt. Die deutsche Rechtslage steht zur unionsrechtlichen Rechtslage nicht im Gegensatz, sondern bildet diese ab und setzt sie durch. Seit der Änderung des Grundgesetzes 1992/93 ist in Deutschland niemand mehr asylberechtigt, der über einen sicheren Drittstaat eingereist ist; alle Länder, die Deutschland umgeben, sind sichere Drittstaaten.

Entsprechend gebietet Paragraph 18 Asylgesetz, Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten an der Grenze zurückzuweisen. Jedenfalls seit der Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen ist diese Vorschrift auch wieder durchgehend anzuwenden. Daher kann nicht die Rede davon sein, daß das EU-Recht das deutsche Recht „überlagere“ mit der Folge, daß Asylbewerbern unabhängig von der nationalen Rechtslage zunächst jedenfalls die Einreise zu gestatten sei. Denn der unionsrechtliche Anwendungsvorrang zugunsten des Europarechts besteht nur dann, wenn das nationale Recht in Widerspruch zum Unionsrecht steht, was hier aber nicht der Fall ist.

Der richtige Kern der „Überlagerungstheorie“ ist freilich der: Wenn einem Asylbewerber die Einreise nach Deutschland gelingt und er in Deutschland einen Asylantrag stellt, so muß dieser in Deutschland zunächst angenommen und bearbeitet werden. Und wenn dann in der Folge nicht die zügige Ausweisung des Asylbewerbers in den eigentlich zuständigen Ersteinreisestaat gelingt (etwa, weil dieser keine Ausweispapiere bei sich hat), so geht die Asylzuständigkeit auf Deutschland über. Daher ist die Zurückweisung bereits an der Grenze die einzig zuverlässige – und rechtlich erlaubte! – Methode, um die unionsrechtlich vorgesehenen Zuständigkeiten auch durchzusetzen.

Hintergrund der europäischen Asylkrise ist die Kollision des Dublin-Systems, aus dem die Zuständigkeit des Ersteinreisestaats folgt, mit dem Schengen-System, das heißt dem Abbau syste-matischer Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen, der Asylbewerbern rein faktisch die freie Bewegung durch die EU bzw. den Schengen-Raum ermöglicht.

Das Ausmaß der Probleme wurde 2011 erstmals sichtbar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof urteilten damals übereinstimmend, daß die unionsrechtlich eigentlich vorgesehene Abschiebung von Asylbewerbern ins Ersteinreiseland Griechenland bis auf weiteres nicht durchgeführt werden dürfe, weil deren Unterbringung dort menschenunwürdig sei. Daher wurden entsprechende Asylverfahren seither stillschweigend von Deutschland mit­übernommen, ohne daß jemals auch nur erwogen wurde, Griechenland aus dem gemeinsamen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, den der Lissabon-Vertrag proklamiert, auszuschließen.

Die Wiedereinsetzung des geltenden Asylrechts müßte früher oder später zu blutigen Ausschreitungen führen. Wohl eingedenk dieses Umstandes ist es überparteilicher Konsens geworden, „nationale Alleingänge“ in der Asylfrage abzulehnen.

Damit war das Scheitern des europäischen Asylsystems bereits Jahre vor der Asylkrise von 2015/16 gewissermaßen „amtlich“. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die Problematik der Situation jedoch erst mit der massenhaften Ankunft von Asylbewerbern bewußt, die auf der „Balkan-Route“ nach Ungarn einreisten und dort verlangten, umstandslos nach Deutschland durchgelassen zu werden.

Der einzige EU-Staat, der wenigstens versucht hat, sich in der Asylkrise unionsrechtskonform zu verhalten, war Ungarn. Daher liegt eine historische Ungerechtigkeit darin, daß Ungarn alsbald von deutschen und österreichischen Stellen bezichtigt wurde, bei der Behandlung von Asylbewerbern europäische „Werte“ und Rechtsgrundsätze zu verletzen. Denn die Ungarn wollten als Ersteinreisestaat die Asylverfahren übernehmen und untersagten den Asylbewerbern, wiederum völlig europarechtskonform, die Weiterreise über europäische Binnengrenzen ins „gelobte Land“ – was freilich auf den erbitterten Widerstand der Migranten traf und zu den teils brutalen Fernsehbildern vom Budapester Hauptbahnhof führte.

Daraufhin ließen die Ungarn die Asylbewerber auf deutsches und österreichisches Drängen hin nach Deutschland weiterziehen. Unionsrechtlich war dies so nicht erlaubt und konnte insbesondere nicht durch das später durch die Bundesregierung in Anspruch genommene „Selbsteintrittsrecht“ aus Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung gerechtfertigt werden, da sich dieses Selbsteintrittsrecht von Staaten in fremde Asylverfahren immer nur auf Einzelfälle bezieht, in denen Identität und Fluchtschicksal eines bestimmten Asylbewerbers abschließend geklärt sind. Seine Ausübung setzt außerdem ein kompliziertes formelles Notifikations- und Abstimmungsverfahren zwischen den beteiligten Staaten voraus, das hier jedenfalls nicht durchgeführt wurde.

Die Vorgänge vom Budapester Hauptbahnhof lassen zwei Umstände deutlich werden, über die sich die Öffentlichkeit nach wie vor hinwegtäuscht. Erstens: Die Umsetzung bzw. Wiedereinsetzung des geltenden deutschen wie europäischen Asylrechts müßte früher oder später zu blutigen Ausschreitungen führen. Denn junge Männer, die sich und ihre Familien hoch verschuldet haben und teils unter Lebensgefahr Tausende von Kilometern zurückgelegt haben, um in das gelobte Land zu gelangen, wo staatlicherseits für das bloße Dasein eines Menschen Geld bezahlt wird und die Erzeugung von Kindern jeweils Ansprüche auf eine entsprechende „Gehaltserhöhung“ sowie auf eine größere Wohnung auslöst, werden sich nach ihrer Ankunft nicht mit ein paar sachlich-ernsten Worten einfach abweisen lassen, zumal sie wissen, wie vielen anderen bereits vor ihnen die Einwanderung ganz unabhängig von der Rechtslage gelungen ist.

Zweitens: Wohl eingedenk dieses Umstandes ist es in Deutschland überparteilicher Konsens geworden, „nationale Alleingänge“ in der Asylfrage abzulehnen, „Abschottung“ zu verdammen und „europäische Lösungen“ für den einzig gangbaren Weg in Asylfragen zu erklären. Dahinter dürfte einfach der begreifliche Wunsch stecken, die anstehende gewaltsame Durchsetzung geltenden Rechts nicht in Deutschland, sondern in der europäischen Peripherie stattfinden zu lassen, wo sie vielleicht den moralisch sensiblen deutschen Grünwählern und Medienvertretern eher zuzumuten wäre.

Das Verfassungsgericht hatte in seiner Lissabon-Entscheidung von 2009 klargestellt, daß kraft der Selbstbestimmungsgarantie des Grundgesetzes die weitere europäische Integration nicht zu einer „Entstaatlichung“ Deutschlands führen darf.

Gegen die Realisierbarkeit einer „europäischen Lösung“ spricht aber, daß es keinen Menschen auf der Welt gibt – sei es in Afrika, auf dem Hindukusch oder im Nahen Osten –, der gern nach Europa auswandern will, dem es aber egal ist, ob er in Bulgarien oder in Deutschland angesiedelt wird.

Dies zeigt das Schicksal der polnischen Syrien-Flüchtlinge. Denn auch Polen hatte etliche hundert Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen, die familiär untergebracht wurden, wobei man darauf geachtet hatte, daß es sich ausschließlich um arabische Christen handelte und nicht um Muslime. Diese auf den ersten Blick doch privilegierten und „handverlesenen“ Asylbewerber sind mittlerweile aus Polen ausgereist und verfolgen ihre Asylanträge in Deutschland weiter; die in Polen gezahlten Sozialleistungen, umgerechnet etwa 40 Euro pro Woche, entsprachen nicht ihren Erwartungen an ein Leben in Europa. Daher wird Deutschland vermutlich kaum etwas anderes übrigbleiben, als früher oder später seine asyl- und einwanderungspolitischen Interessen wieder stärker selbst in die Hand zu nehmen.

Die hier vertretene Lesart des Unionsrechts ist nicht unumstritten. Mit starker Unterstützung der Massenmedien wird zum Beispiel eine Deutung des Unionsrechts propagiert, nach der Deutschland aufgrund der Dublin-III-Verordnung Asylbewerber zunächst einreisen lassen müsse, um dann den eigentlich zuständigen Ersteinreisestaat zu ermitteln. Warum dies nicht in demjenigen EU-Staat stattfinden kann, in dem der Asylbewerber sich bereits aufhält, bleibt dabei unerfindlich; auch fällt auf, daß diese Theorie offenbar keinen Unterschied zwischen dem Schengen-Normalzustand ohne systematische Grenzkontrollen und dem Schengen-Notstand machen will, in dem systematische Grenzkontrollen stattzufinden haben – die selbstverständlich und typischerweise auch zu Abweisungen führen können, denn sonst wären sie ja sinnlos. 

Diese Lehre geht auf ein unrichtiges Verständnis der Vorschrift aus Artikel 3 der Dublin-III-Verordnung zurück. Nach dieser Vorschrift haben in der Tat die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, der „an der Grenze“ gestellt wird, zunächst zu prüfen; mit der „Grenze“ ist allerdings nicht die zwischenstaatliche Binnengrenze gemeint, sondern die EU-Außengrenze. Das Verfahren an EU-Binnengrenzen ist hingegen in Artikel 20 der Dublin-III-Verordnung geregelt, dessen Absatz 4 Zurückweisungen von Asylbewerben an EU-Binnengrenzen eindeutig zuläßt.

Die Bundesregierung hat sich übrigens nie auf diese Lesart des Unionsrechts berufen, sondern scheint – allerdings zu Unrecht – davon auszugehen, es stehe in ihrem Ermessen, die nationale Rechtsvorschrift aus Paragraph 18 Asylgesetz zur Anwendung zu bringen oder nicht, was ein einigermaßen merkwürdiges Verständnis des Rechts- und Verfassungsstaates offenbart.

Selbst wenn die Vorstellung, das Unionsrecht gebiete es der Bundesrepublik Deutschland, selbst im erklärten Schengen-Notstand jeglichen Asylbewerber zunächst einmal einzulassen (wodurch früher oder später auch die Asylzuständigkeit auf Deutschland übergeht, weil die Rückschiebung in den Ersteinreisestaat faktisch nicht rechtzeitig bewältigt werden kann), aber richtig wäre, so würde dies noch immer nicht zur Rechtmäßigkeit der Grenzöffnungspolitik führen, sondern die Bundesregierung um so stärker verpflichten, die Grenzen vor einem unübersehbaren Ansturm zu schließen. Denn in diesem Fall wäre der Lissabon-Fall eingetreten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Lissabon-Entscheidung von 2009 klargestellt, daß kraft der Selbstbestimmungsgarantie des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3) der Fortgang der europäischen Integration nicht zu einer „Entstaatlichung“ Deutschlands führen darf. Die Letztentscheidung über die Einreise, gar die dauerhafte Niederlassung im Staatsgebiet, die Komposition der Bevölkerung, die Kontrolle der Grenzen, sind aber absolute Essentialia der Eigenstaatlichkeit.

Sollte die Theorie zutreffen – was aber nicht der Fall ist! –, daß Deutschland selbst bei hunderttausendfachem Ansturm von Asylbewerbern unionsrechtlich pauschal zu deren Einlaß verpflichtet ist, so wäre Deutschland infolge der Anwendung dieses Unionsrechts kein souveräner Staat mehr und dürfte daher, nach der ausdrücklichen Rechtsprechung des BVerfG, dieses Unionsrecht gar nicht anwenden.

Der moderne Sozialstaat – laut Helmut Schmidt die größte zivilisatorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts – ist die praktisch wichtigste Ausprägung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. Ein Sozialstaat mit offenen Grenzen – in den, jedenfalls im Prinzip, auch ohne Ausweispapiere die ganze Welt einreisen kann, um sich ihr Geld abzuholen – ist nicht überlebensfähig und nicht vorstellbar. Daher gilt auch die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nur im Rahmen und in den Grenzen der völkerrechtlichen Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland.






Dr. habil. Ulrich Vosgerau lehrte Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie Rechtsphilosophie an mehreren Universitäten. Er lebt als Rechtsanwalt, Autor und Privatgelehrter in Berlin.

Foto: Immigranten auf einem Schiff nach Sizilien: Ein Sozialstaat mit offenen Grenzen – in den, jedenfalls im Prinzip, auch ohne Ausweispapiere die ganze Welt einreisen kann, um sich ihr Geld abzuholen – ist nicht überlebensfähig