© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Der entblößte Osten
Mit der sowjetischen Großoffensive begann vor 75 Jahren eine Odyssee für die deutschen Zivilisten in den Ostprovinzen des Reiches
Matthias Bäkermann

Die Verzweiflung im Führerhauptquartier „Adlerhorst“ in den Wäldern des Taunus schlug in Zorn um. Als am Heiligen Abend 1944 die Generalität ihrem obersten Befehlshaber, der von Hessen aus die Operation gegen die US-Amerikaner in den Ardennen koordinieren wollte, die Lage an den Fronten zu erklären versuchte, geriet dieser in Rage. „Wer hat diesen Blödsinn ausgegraben?“ herrschte Hitler Generalstabschef Heinz Guderian an, der anhand der Angaben von Reinhard Gehlens Abteilung „Fremde Heere Ost“ die beängstigende Übermacht der Roten Armee an Memel und Weichsel veranschaulichte. Ein Angriff im Osten sei nichts anderes als „der größte Bluff seit Dschingis Khan“, polemisierte der Führer des Großdeutschen Reiches. 

Diese auf Nachkriegserinnerungen Guderians fußende Aussage klingt in Anbetracht der Erfahrungen, die die immer hoffnungsloser unterlegene Wehrmacht 1944 gemacht hatte, völlig unbegreiflich. So konnte nur mit allergrößter Not die Ostfront stabilisiert werden, nachdem im Sommer die Heeresgruppe Mitte zusammengebrochen war und sich zuvor die deutschen Truppen aus der Ukraine nur mit ungeheuren Verlusten retten (JF 8/19) konnten.

Doch die Situation um den Jahreswechsel 1944/1945 verriet, daß Hitler die sowjetische Bedrohung mit kühner Realitätsverweigerung ignorierte. So kämpften die erfahrensten und schlagkräftigsten Divisionen fernab der Ostfront in den Ardennen oder in Ungarn (JF 52/19). Zwei komplette Armeen, die seit Oktober 1944 in Kurland eingeschlossen waren und deren Verlegung über die Ostsee ins Reich im Oberkommando der Wehrmacht immer wieder angemahnt wurde, mußten auf allerhöchsten Befehl in ihrem strategischen Abseits verharren. Das alles mit der trügerischen Aussicht, das „Heft des Handelns“ für das Kriegsjahr 1945 nicht aus der Hand zu geben – mit der Rückeroberung Antwerpens sollte der alliierte Nachschub gestört werden, mit dem Halten der letzten Ölquellen am Plattensee eine operative Aktionsfähigkeit gesichert werden, und der Kurlandarmee maß Hitler gar für seine Visionen einer kommenden Frühjahrsoffensive in Richtung Moskau eine wichtige Rolle zu.

Sowjetischer Übermacht war nichts entgegenzusetzen

Der bis dahin vom Krieg weitestgehend verschonte Osten Deutschlands wurde in diesem ebenso fatalen wie finalen Strategiespiel Hitlers praktisch geopfert. Als am 12. Januar 1945 die sowjetische Großoffensive mit der tatsächlich der Feindaufklärung der Wehrmacht entsprechenden Übermacht (Infanterie und Panzer etwa 5:1, Artillerie und Luftwaffe sogar 10:1 bzw. 12:1) losrollte, war von deutscher Seite diesem militärischen Tsunami kaum etwas entgegenzusetzen. Innerhalb von drei Wochen stieß Marschall Iwan Konjews 1. Ukrainische Front vom Weichselbrückenkopf bei Kielce ins Herz Schlesiens, Marschall Georgi Schukows 1. Weißrussische Front von der Weichsel bis an die Oder bei Küstrin und General Konstantin Rokossowskis 2. Weißrussische Front von Warschau nach Norden zur Danziger Bucht vor. Nachdem auch noch die 3. Weißrussische Front von General Iwan Tschernjachowski aus Litauen gegen die ostpreußische Hauptstadt Königsberg vorrückte, war das Schicksal Ostdeutschlands östlich der Oder praktisch besiegelt. Bis Mitte März sollte ein Drittel des Reiches unter Kontrolle der Roten Armee stehen.

Was wie der Auftakt zum Finale des militärischen Zusammenbruchs des NS-Reiches klingt, das sich – vor allem nach dem Krieg – für viele Beobachter spätestens mit der Niederlage in Stalingrad 1943 als zwangsläufig ankündigte, ist in seiner mörderischen Dramatik unvergleichlich und gibt Historikern vor allem wegen der verhängnisvollen Entscheidungen der NS-Führung bis heute Rätsel auf. So verwundert es, wie leichtfertig das drohende Schicksal für Millionen ostdeutscher Zivilisten in Kauf genommen wurde. Weder schlagkräftige „Tiger“- bzw. „Panther“-Panzereinheiten noch „Wunderwaffen“ standen zur Verteidigung bereit, trotzige Gauleiter wie Erich Koch in Königsberg verweigerten sich jedem Notfallplan für die in der Heimat verbliebenen Frauen, Kinder und Alte. Selbst die im Herbst 1944 von Hitlerjugend und Volkssturm hektisch angelegten Panzersperren und Schützengräben zwischen Memel und Kattowitz lagen ebenso wie die Festungsanlagen des „Ostwalls“ an der Warthe im Januar 1945 leer und verschneit da, weil die Wehrmachtssoldaten, die diese hätten besetzen können, derweil bei Budapest, Bastogne oder Libau verbluteten.

NS-Propaganda wurde zur grausamen Realität

Nicht erst seit den ersten dokumentierten sowjetischen Kriegsverbrechen aus der im Herbst 1944 zurückeroberten ostpreußischen Grenzregion lief die Propaganda gegen die „wütenden Bestien“ (Braunschweiger Tageszeitung vom 27. Oktober) auf Hochtouren. In der „Tagesparole des Reichspressechefs“ für die maßgeblichen Chefredakteure deutscher Zeitungen nach den Massakern von Nemmersdorf wurde Tacheles geredet: Der Bevölkerung sei klarzumachen, „dem Eroberungssturm des Bolschewismus würde nicht nur unser Hab und Gut zum Opfer fallen. (...) Ein planmäßiges grausames Hinmorden jedes einzelnen Deutschen würde Platz greifen und Deutschland in einen einzigen Friedhof verwandeln.“ Doch schon lange davor machten im ganzen Reich Plakate deutlich, daß es ohnehin nur zwei Alternativen im Krieg gegen den sowjetische Hauptfeind im „Weltanschauungskampf“ gäbe: „Sieg oder bolschewistisches Chaos“. 

Tatsächlich hätten die NS-Propagandisten um Max Amann, der seit 1933 die gleichgeschaltete Presse kontrollierte, kaum die Dimension erahnen können, in welchem Ausmaß in einigen Regionen ihre Friedhofsvision zur brutalen Realität wurde. So wurden ganze Landstriche Ostpreußens oder Ostbrandenburgs zu einem Totenland, wo kaum ein Zivilist das Wüten der Soldateska überlebte. Das Bundesarchiv schätzt die Zahl der unmittelbar während des Vormarsches der Roten Armee Ermordeten auf knapp 100.000 Menschen an mindestens 3.300 Tatorten, die anhand von Berichten Überlebender, aber zum Beispiel auch russischer Feldpostbriefe ermittelt werden konnten. Viele Schilderungen der grausamen Mordaktionen sind vielfach in der acht Bände umfassenden „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ enthalten, die im Auftrag der Bundesregierung in den fünfziger Jahren erstellt wurde. 

Wer in diesen authentischen Zeugnissen die reine Opfersicht, eine parteiliche Färbung oder gar antisowjetische Affekte erkennen will, den dürften Beobachtungen höchst unverdächtiger Zeitzeugen wie jene des für Stalins „Nationalkomitee Freies Deutschland“ tätigen Heinrich Graf von Einsiedel korrigieren. „Sie sahen sie Gefangene und Zivilisten erschießen, Frauen vergewaltigen und Lazarette mit dem Kolben in ein Totenhaus verwandeln. Sie haben eine Vernichtungsorgie erlebt, wie sie noch kein zivilisierter Landstrich über sich hat ergehen lassen müssen“, schildert Einsiedel das Wüten der Sowjetsoldaten, das seine Getreuen als Propagandisten an der Front in Ostpreußen in deren Begleitung erleben mußten. „Was sich hier abgespielt hat, übersteigt alles, was ich in meinen pessimistischen Stunden für möglich gehalten habe“, resümiert der einstige Jagdflieger der Luftwaffe, der 1942 in der Gefangenschaft die Seiten gewechselt hatte.

Dabei war das Motiv der Soldaten der Roten Armee eher in Ausnahmefällen auf Rache für zuvor von deutschen Truppen in der Sowjetunion verübtes Unrecht zurückzuführen, wie manche bundesdeutsche Zeithistoriker später oft apologetisch behaupten sollten. So ergaben Analysen der Herkunft der Kämpfer maßgeblich an der Eroberung Ostdeutschlands beteiligter Sowjetregimenter, daß die große Mehrheit aus Gebieten Rußlands stammte, die nie in den Einflußbereich deutscher Truppen geraten waren. 

Ein prominenter Vertreter jener Minderheit, dessen nordkaukasische Heimat Kislowodsk von der Wehrmacht erobert wurde, war der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn. Als dieser den Einmarsch in den NS-Feindstaat 1945 als Offizier erlebte, beschreibt er die Stimmung: „Vor uns öffnete sich ein unversehrtes, reiches Land, das uns gerade in die Hand schwamm.“ So beeindruckten viele Rotarmisten die durchweg elektrifizierten „steinernen“ Häuser, in denen sie ungeahnte Vorräte an Eingemachtem, Alkohol und mollige Betten mit Daunendecken vorfanden. Die Soldaten waren dabei weniger von Rachedurst getrieben oder gar von Haßpredigern wie dem sowjetischen Propagandafürsten Ilja Ehrenburg gesteuert, der permanent in den vielgelesenen Frontzeitungen zum erbarmungslosen Töten von Deutschen aufrief. 

Insbesondere die nach vielen Jahren der blutigen Opfer und Entbehrungen kämpfenden Frontsoldaten beschlich nun das Empfinden, „etwas locker zu lassen“, wie Solschenizyn den durch die Armeeführung weitestgehend geduldeten Beutetrieb erklärt: „Das Gefühl, Belohnung verdient zu haben, hatte alle ergriffen, bis in die allerhöchsten Offiziersränge, und erst recht die einfachen Soldaten.“ 

Deutsche Frauen wurden wie Freiwild behandelt

Dieser Zugriff auf ihre „Belohnung“ endete allerdings für Abertausende Ostdeutsche tödlich, nicht nur für jene, die den Plünderungen im Wege standen. Besonders Frauen, die ebenso zur Beute zählten, wurden von den nicht nur sprichwörtlich in „rauschhafter Euphorie“ (Solschenizyn) brandschatzenden, oft sturzbetrunkenen Siegern wie Freiwild behandelt. Dabei dürfte die genaue Zahl der geschätzt in die Hunderttausende gehenden Vergewaltigungen von jungen Mädchen bis hin zu Greisinnen wohl nie aufgearbeitet werden können. 

Viele Opfer gingen durch Jahrzehnte der Traumatisierung mit diesem aus ihrer Sicht für ihr familiäres Umfeld pikanten Geheimnis ins Grab. Und die sich ebenso in Schweigen hüllenden Täter konnten in der Heimat vielleicht mit ihren in Deutschland erbeuteten Uhren renommieren. Die massenhaften sexuellen Kriegsverbrechen dieser alles andere als „ruhmreichen Sowjetsoldaten“ hätte deren Frauen, Mütter und Töchter in Moskau oder Leningrad mit Sicherheit in Erschütterung versetzt.