© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Ein Versagen an allen Leitungsebenen
Der größte Skandal der Bundeswehr: Heiner Möllers über die Kießling-Affäre 1983
Christian Millotat

Ursprung und Verlauf der „Affäre Kießling“ von 1983/84 hat der Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam, Heiner Möllers, akribisch und mit Quellen dicht belegt in seinem aktuellen Buch „Die Affäre Kießling – Der größte Skandal der Bundeswehr“ dargestellt. Dazu gehören in chronologischer Abfolge: Ihre Auslösung auf Nato-Seite durch einen Brief des Befehlhabers Nord Europa, General Sir Anthony Farrar-Hockley, an den Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), General Bernard Rogers, Kießlings zukünftigen unmittelbaren Vorgesetzten, mit dem Verdacht, der General sei praktizierender Homosexueller und damit nach damaliger Beurteilung ein Sicherheitsrisiko. 

Dieser Brief löste die Ablehnung von Kießling durch Rogers während der Verwendung als dessen Stellvertreter als Deputy SACEUR (DSACEUR) aus. Dazu gehören aber auch die Versuche seines späteren „Principle Staff Officer“, Kapitän zur See Klaus Jancke, durch Unterrichtung der Personalabteilung in Bonn über diesen Verdacht den Dienstantritt des Generals als DSACEUR zu verhindern. In Kreisen der Bundeswehr kursierten danach zunehmend Gerüchte über Kießlings angebliche homosexuelle Veranlagung mit dem über ihn verbreiteten Spruch: „Lieber ein kalter Riesling als ein warmer Kießling.“

Das Ganze gipfelte im ungeschickten Verhalten des Bundesministers der Verteidigung Manfred Wörner in der Affäre mit dessen Rücktrittsgesuch, das Bundeskanzler Helmut Kohl ablehnte. Kohls und Bundespräsident Karl Carstens Rolle und das unverständliche Taktieren des Generalinspekteurs, General Wolfgang Altenburg, und des Leiters der Personalabteilung, Generalleutnant Hans Kubis, rundeten die Affäre ab. Das Kießlings Persönlichkeit und Verdienste mißachtende, formaljuristische Wirken von Staatssekretär Joachim Hiehle und die unwürdige Verabschiedung des Generals ohne Großen Zapfenstreich durch diesen Beamten und nicht durch den Minister waren die äußeren Signale in diesem unwürdigen Spiel. 

Zu diesem zählt auch die Rolle des stellvertretenden Leiters des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und –wie nach 1990 aufgedeckt werden konnte – Mitarbeiters der DDR-Stasi, Oberst Joachim Krase, und das zögerliche Verhalten vieler Kameraden des Generals aus dessen 4. Generalstabslehrgang des Heeres, vor allem seines damaligen Inspekteurs, Generalleutnant Meinhard Glanz, die sich nicht spontan vor Kießling stellten. Mit dem dilettantischen Wirken von Wörners Pressesprecher Oberst Jürgen Reichardt und des stellvertretenden Vorsitzenden des Hauptpersonalrats im Bundesministerium der Verteidigung Werner Karrasch ist weiteres Öl in die Flamme der Affäre gegossen worden. 

Angeheizt wurde die Affäre zudem von der Kölner Kriminalpolizei, die im Rahmen einer fragwürdigen Amtshilfe ermittelte und General Kießlings angeblichen Verkehr in Homobars der Domstadt, Kontakte mit Strichjungen sowie das Tanzen des Generals in Frauenkleidern beobachtet haben wollte. Dazu paßten Beschuldigungen Kießlings durch den wegen eines Sexualdelikts vorbestraften Schweizer homosexuellen Schauspielers Alexander Ziegler, den Minister Wörner in einem prominenten Zeugenkreis empfing und anhörte. 

Möllers beleuchtet auch die Behandlung der Affäre im Parlament, im Verteidigungsausschuß und im Kabinett und schließlich die Rehabilitierung des Generals durch Wiedereinstellung in die Bundeswehr und seine Verabschiedung mit dem Großen Zapfenstreich in den Ruhestand. 

Ein Lehrstück über die Unkameradschaftlichkeit

All das hat Möllers akribisch und wertend dargestellt, „zwischen den Zeilen“ sowie direkt. Dabei sind ihm auch Fehler unterlaufen, zum Beispiel bei der unzutreffenden Kennzeichnung des Dienstpostens des DSACEUR als Frühstücksdirektor und der Behauptung, Kießling habe seine Zeit im Nato-Hauptquartier SHAPE vornehmlich mit Dienstreisen verbracht, um den persönlichen Kontakt mit General Rogers zu vermeiden.

Die Informationen, die Möllers zusammengetragen und interpretiert hat, sind nicht neu. Sie wirken aber in der verdichteten Zusammenstellung des Autors als beklemmendes Lehrstück über Unkameradschaftlichkeit und menschliches Versagen der damaligen politischen und militärischen Führung gegenüber einem verdienten General der Bundeswehr mit geballter Wucht auf den Leser. In diesem den Leser aufwühlenden Effekt liegt der hauptsächliche Wert von Möllers’ Buch. Es hat aber auch Schwächen. Sie liegen in der Schilderung von Charakterzügen des Generals und Auslassungen von Feldern seines Wirkens in der Bundeswehr und im Ruhestand.

Möllers zeichnet ein Bild General Kießlings als Grenzgänger, als Solitär unter den Generalen und Admiralen der Bundeswehr ohne Vernetzung mit ihnen. Er sei unbeliebt und belehrend sowie eigenbrötlerisch mit wunderlichen Junggesellenmanieren gewesen, ohne Kontakte zu Frauen seit einer gescheiterten Liebesbeziehung zur 20jährigen, zur damaligen Zeit noch nicht volljährigen Tochter eines seiner Lehrer im 4. Generalstabslehrgang des Heeres, die zu seiner Ablösung in Hamburg geführt habe. Der Hagestolz habe sich danach zu hundert Prozent dem Dienst verschrieben und dort seine Leidenschaften und Talente ausgelebt. Diese Beschreibung des Generals engt Tiefe und Breite seiner Persönlichkeit und sein idealistisches Wirken für Deutschland, die deutschen Soldaten, als Truppenführer, als General für die Erziehung in der Bundeswehr, als Autor und Vortragender ungerechtfertigt ein.

General Kießling war ein leidenschaftlicher Patriot und bekennder Christ, der sein Vaterland liebte und das Ziel seiner Wiedervereinigung nie aufgab. Er warb dafür in Wort und Schrift als Offizier und Staatsbürger. Sein Selbstverständnis als Soldat gründete in tradierwürdigen Entwicklungen der preußisch-deutschen Militärgeschichte und ihrem unveränderten Wert in modernem Gewand in der Bundeswehr. In Fragen der Traditionspflege der Bundeswehr war er, das hat er oft betont, im Einklang mit der Aussage des späteren Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser hatte sich bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr vom 10. Oktober 2005 zur Traditionspflege in der Bundeswehr geäußert. „Die Bundeswehr“, führte Köhler dort aus, „hat unserem Land fünfzig Jahre treu gedient. Sie hat damit eine eigene, gute Tradition begründet, und sie pflegt die Tradition ihrer Vorgängerarmeen, getreu dem Apostelwort: ‘Prüfet alles!’ Das Gute behaltet.“ 

Kießling hat die einmaligen Besonderheiten der Stellung des deutschen Unteroffiziers, entwickelt in früheren deutschen Armeen, seine herausgehobene Funktion als Ausbilder, Offizierdiensttuer und Gehilfe der Offiziere, immer wieder betont und verfocht leidenschaftlich ihre Weiterentwicklung. Für die Traditionswürdigkeit von herausragenden Soldaten der Wehrmacht, wie sie der neue Traditionserlaß der Bundeswehr vom März 2018 wieder ermöglicht, kämpfte er gegen Widerstände im zurückliegenden ideologisch-pädagogischen und utopischen Zeitalter, die im überholten Traditionserlaß von 1982 mit seinen nur drei tradierwürdigen Inseln, preußische Militärreformen, 20. Juli 1944 und Tradition der Bundeswehr, ihren Niederschlag gefunden hatten. Er setzte sich auch leidenschaftlich für die lange vernachlässigte gerechte Würdigung der Beamten des Bundesgrenzschutzes ein, die in die Bundeswehr übernommen wurden, zu denen er gehörte, und dort unverzichtbare Aufbauarbeit geleistet haben, aber dem Kreis um den Grafen Wolf von Baudissin nicht willkommen waren. Kießling regte auch an, die Zahl der an der Führungsakademie der Bundeswehr ausgebildeten Generalstabs- und Admiralstabsoffiziere zu erhöhen, um die Qualität der Führung zu verbessern. Für die Führung der Bundeswehr entwickelte er zukunftsweisende Gedanken.

Stiftung für soldatische  Leistung in Einsätzen

Als Truppenführer und Autor sowie Vortragender hat er diese Gedanken immer wieder vorgebracht, viel leidenschaftlicher und drängender als viele seiner Generalskameraden. Er war dabei immer für Anregungen und Kritik seiner Gedanken zugänglich.

Die Auffassung des Autors, Kießling habe aufgrund seiner familiären Herkunft – sein Vater war Unteroffizier im Ersten Weltkrieg – bei seinen Generalskameraden Anerkennungssprobleme gehabt, ist falsch. General Altenburgs Vater war Schneider. Viele andere Generale der Bundeswehr stammten und stammen nicht aus dem Adel und dem gebildeten Bürgertum. Kießling hätte gewiß auch ohne nachgeholtes Abitur, Studium und Promotion in der Bundeswehr seinen Weg gemacht. Es spricht für seine intellektuellen Fähigkeiten und sein Leistungsvermögen, daß er seine akademischen Abschlüsse während seiner Dienstzeit als junger Offizier erworben hat.

Oberstleutnant Möllers’ Arbeit zeichnet unter dem Strich General Kießling unzutreffend als Sonderling, verzerrt und karikiert stellenweise seine Persönlichkeit sowie übergeht sein erfolgreiches Wirken für die Bundeswehr als aktiver Soldat und im Ruhestand. Durch sein schriftstellerisches Werk und seine großzügige finanzielle Stiftung für die Auszeichnung von Soldaten sowie Truppenteilen, die sich im In- und Auslandseinsatz besonders hervorgetan haben, wirkt der 2009 verstorbene General Kießling in Bundeswehr und Gesellschaft bis heute weiter.

Heiner Möllers: Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr. Ch. Links Verlag, Berlin 2019, gebunden, 368 Seiten, 25 Euro






Generalmajor a.D. Christian Millotat ist Leiter des Regionalkreises Südwest der Clausewitz-Gesellschaft.