© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Einer hält oben Wacht
Mit 360-Grad-Kontrollblick: In einigen Städten gibt es noch traditionelle Türmer
Bernd Rademacher

Die Städte des Mittelalters waren ständig durch Brandgefahr und fremde Heere bedroht. In Ermangelung von Überwachungskameras und Telekommunikation stellte ein Türmer das Frühwarnsystem seiner Zeit dar. Er hatte vor allem nachts von seiner erhöhten Position die Umgebung im Auge zu behalten und im Ernstfall Alarm zu schlagen.

In den Stadtchroniken von Dortmund, Hamburg und Koblenz wird beispielsweise von Türmern berichtet. Obwohl der Beruf enorm wichtig war, waren die Türmer nicht besonders angesehen und sozial von niedrigem Rang. Vielleicht auch, weil es nicht immer die Zuverlässigsten waren: Mehrfach berichten Stadtschreiber, daß Türmer ihr Nachtgeschirr vom Turm hinab ausleerten oder betrunken einschliefen und ihren Wachdienst verpennten.

Am Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Stellung des Türmers ihre Bedeutung: Ab 1900 gab es vielerorts Feuerwehren, die telefonisch verständigt werden konnten. Auch marodierende Truppen waren nicht mehr zu befürchten. Trotzdem haben einige deutsche Städte ihre Türmer-Tradition bewahrt – als Folklore.

In Münster (Westfalen) hat die Historikerin Martje Saljé seit 2014 eine halbe Stelle als Türmerin im städtischen Haushalt und führt das Türmer-Erbe der Stadt seit 1376 fort. Die 39jährige ist damit die erste Frau in dem kalten Turmzimmer auf rund 60 Metern Höhe über den berühmten Wiedertäufer-Käfigen von St. Lamberti, mitten in der historischen Altstadt. 

Täglich außer dienstags muß sie von 21 Uhr bis Mitternacht halbstündlich in ihr kupfernes Horn tuten. Bis zu ihrem zugigen Zimmer sind es 300 ausgetretene Treppenstufen. Der luftige Arbeitsplatz bringt viel Einsamkeit mit sich, manchmal aber auch Aufregung: Die Türmerin hat 2016 tatsächlich einen Brand entdeckt und die Feuerwehr alarmiert, bevor der erste Notruf einging. 

Andersherum erging es 1467 dem Turm der Duisburger Salvatorkirche, der komplett ausbrannte, weil der Türmer neben einer brennenden Kerze eingenickt war. Auch in Bad Wimpfen bei Heilbronn am Neckar ist mit Blanca Knodel eine Frau als Türmerin im Dienst und hält im alten Zollturm Wacht über die alte Stauferpfalz. 

Auch im Ausland ein Amt mit Würden

Im Turm der St. Annen-Kirche im sächsischen Annaberg haust sogar ganzjährig eine vollständige Türmerfamilie. Und auf dem berühmten Hamburger Michel trötet der Türmer nicht nur atonal in ein altes Horn, sondern bläst morgens und abends mit seiner Trompete einen stimmungsvollen Choral in alle vier Himmelsrichtungen. In Koblenz hatte die Turmwache eine doppelte Funktion: Die Türmer der Liebfrauenkirche läuteten auch die Polizeistunde bei Schließung der Stadttore ein. Spätestens dann hatten die Zecher aus den Kaschemmen zu verschwinden. 

Da die Glocke nach Meinung der Bürger das Lumpengesindel aufscheuchte, hat sich bis heute der Begriff „Lumpenglocke“ erhalten. Zudem führte vom Türmerstübchen ein Rufrohr zum Fuß des Turms, durch welches der Wachhabende Richtung und Entfernung von Gefahren melden konnte, ohne hinabsteigen zu müssen. High-Tech des Mittelalters.

Auch in der Schweiz gibt es bis heute zwei aktive Türmer. Neben Lausanne bezieht in Schaffhausen allabendlich der Wächter den Turm der Festung Munot und läutet per Hand das „Munot-Glöggli“, die Brandglocke aus dem Mittelalter. Das bekannte „Lied vom Munotglöckchen“ beschreibt den Liebeskummer des einsamen Türmers. Im polnischen Krakau ist der Türmer der St. Marien-Basilika sogar doppelt musikalisch: Er läutet nicht nur den stündlichen Glockenschlag, sondern bläst mit seiner Trompete auch das traditionelle „Hejnat“-Signal. 

Ein Brauch, der im Zeitalter der Digitalisierung einigen überflüssig erscheint, aber immer noch dafür steht, wo wir zu Hause sind.