© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Die Mullahs haben nichts mehr zu bieten
Irankrise: Die Lügen nach dem Abschuß eines Zivilflugzeugs bringen bei vielen das Faß zum Überlaufen / Stagnation und Rationierung prägen den Alltag
Jürgen Liminski

Dieses Volk will offenbar nicht mehr. Schon seit Monaten demonstrieren Menschen zu Tausenden in kleineren Städten, in den Hochhaussiedlungen rund um Teheran, in Eslamshahr südlich der Hauptstadt, in Schahrijar in der Provinz Teheran oder in den Provinzen Kermanschah und Chuzestan an der Grenze zum Irak.

Es kam immer wieder zu Ausschreitungen, Verhaftungen sowie Tötungen und Hinrichtungen von Demonstranten. Jüngst war es der enorm gestiegene Benzinpreis und die Spritrationierung, dann die Teuerungen des Brotes und die Kontingentierung alltäglicher Lebensmittel, dann wieder die Willkür der Revolutionswächter oder der Freiheitsdrang junger Leute an Universitäten. Im Westen erfährt man nur sporadisch davon. Es gärt schon lange.

Das drei Tage währende Lügen und Leugnen über den Abschuß der ukrainischen Boeing-Passagiermaschine über einem Vorort von Teheran vergangene Woche aber brachte das Faß zum Überlaufen. Die meisten der 176 Toten waren iranischer Abstammung. Bei der Beerdigung des Terror-Generals Kassem Soleimani kamen Hunderttausende zu den staatlich gelenkten Demonstrationen, sie skandierten „Tod Amerika“. Am Wochenende waren es Zehntausende junger Leute, die in mehreren Städten auf die Straßen gingen, und sie riefen nach Freiheit und einem Ende der Diktatur, nannten das Staatsoberhaupt, den Chef des allmächtigen Wächterrats und religiösen Führer Ajatollah Chamenei „Lügner“, „Verräter“ und „Mörder“.

Großer Widerwille gegen religiöse Bevormundung

Die ersten, systemkonformen Massenmärsche kann man durchaus als Trauer-und Solidaritätsbekundungen gläubiger Muslime mit dem als Märtyrer verehrten General sehen. Aber das heißt nicht, daß es auch Solidaritätsmärsche des Volkes für das Regime waren. Die zweiten Massenmärsche dagegen sind eindeutig gegen das Regime gerichtet.

Dies entspricht auch dem Befund des amerikanischen Forschungszentrums Pew. Demnach ist eine Zweidrittelmehrheit der Iraner zwar dafür, daß religiöse Führer eine Rolle in der Regierung zu spielen haben, aber der zweite Blick auf die Daten zeigt, daß nur vier von zehn Iranern dieser Rolle große Bedeutung beimessen. Drei sprechen sich dafür aus, daß Religion überhaupt keine Rolle spielen sollte, und unter ihnen ist der Anteil von jungen Iranern, die nichts anderes als das seit 1979 herrschende Regime kennen, deutlich größer als bei der älteren Bevölkerung. Mit anderen Worten: Der Anteil der system- und religionskritischen Bevölkerung wächst, denn über die Hälfte der Iraner ist jünger als 40 Jahre.

Daraus läßt sich allerdings kein interner Konflikt oder die Gefahr eines Bürgerkriegs ableiten. Denn fast die Hälfte der Bevölkerung – Jung und Alt – führt die Spannungen in der Gesellschaft nur sehr bedingt auf den Einfluß der Religion zurück. Entscheidend sind die Lebensverhältnisse und das kulturelle Bewußtsein. Hier kommt auch die mehr als dreitausend Jahre alte Geschichte des Landes zum Vorschein. Immerhin war das Reich des Kyros im sechsten Jahrhundert vor Christus das erste Weltreich überhaupt, und noch heute sind die Ruinen von Persepolis zu besichtigen. Der Islam hat zwar das Land geistig verwüstet, vor allem in den vergangenen vier Jahrzehnten der Diktatur, aber die Geschichte und das kollektive Bewußtsein einer alten Kulturnation konnte er nicht vernichten. Es gibt ein nationales Empfinden, das tiefere Wurzeln hat als die Religion.

Es ist vor allem die junge Bevölkerung, die sich immer wieder gegen den blinden Rigorismus des Islam auflehnt. Bezeichnend ist der jetzige Aufstand gegen die Lügen des Regimes. Der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani weist darauf hin, daß es ein Aufstand gegen „das System der Lüge“ ist. Allerdings erklärt er nicht, daß dieses System dem Islam inhärent ist.

Die Ethik des Islam ist utilitaristisch: Wahr ist, was dem Islam nützt, nicht was der Wirklichkeit entspricht. Deshalb ist Logik keine Kategorie islamischen Denkens.

Die offenkundige Lüge über den Abschuß eines Zivilflugzeuges – ob versehentlich oder mit Absicht ist dabei unerheblich – zeigt, wie skrupellos die Führungsclique alles in ihrem Interesse instrumentalisiert und wie sehr die religiöse Parallelstruktur die staatlichen Institutionen lenkt. Die Krokodilstränen, die jetzt im Parlament über den Vorgang vergossen werden – etwa vom Luftwaffenchef der Revolutionsgarden, Amir Ali Hajizadeh, der angeblich noch nie solch eine Scham empfunden habe wie jetzt – werden die demonstrierenden Studenten weder überzeugen noch besänftigen. Es ist offen, wie der Aufstand der Massen endet.

Krieg ist eine Frage der Definition. Unschlagbar bis heute ist die des preußischen Generals Carl von Clausewitz: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. (…) Um diesen Zweck zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.“ Dafür müssen nicht Heere aufmarschieren, manchmal reichen wirtschaftliche Sanktionen, „um den Feind wehrlos zu machen“. Das geschieht derzeit zwischen den USA und dem Iran. Seit Washington unter Präsident Donald Trump im Mai 2018 aus dem Atomabkommen ausgestiegen ist und nach und nach die Sanktionsschraube wieder angezogen hat, geht es mit dem Regime bergab.

Die Sanktionen sind wie Krieg mit anderen Mitteln

Am schlimmsten traf es die Ölindustrie. Von den 4,1 Millionen Barrel Öl, die der Iran in guten Zeiten täglich förderte und davon an die Hälfte (bis zu 1,8 Millionen) exportierte, bleiben heute weniger als 200.000 Barrel übrig – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Die blühende Industrie des Landes mit den viertgrößten Ölreserven der Welt (158 Milliarden Barrel) verkommt, die Infrastruktur verrottet, viele Bohrtürme in den Ölförderregionen am Persischen Golf oder entlang der Grenze zum Irak stehen still.

Das Wirtschaftswachstum, das nach dem Atomabkommen 2015 steil anstieg, stürzte von zwölf Prozent 2016 tief ab, um im letzten Jahr in einer Rezession zu landen. Ausländische Firmen verließen das Land, mit ihnen die geplanten Investitionen, zum Beispiel das Unternehmen Total, das fünf Milliarden Dollar investieren wollte. Oder auch Boeing, Airbus und Volkswagen und Tausende deutsche kleine und mittelständische Unternehmen. Von ihnen blieben gerade einmal ein paar Dutzend übrig. Die deutschen Exporte in den Iran sanken auf 1,2 Milliarden Euro, die iranischen Exporte nach Deutschland auf mickrige 174 Millionen Euro – 2018 waren es noch sechsmal soviel.

Aber reicht der wirtschaftliche Niedergang, um den Krieg zu verlieren? Trump hat mit der gezielten Tötung am Flughafen von Bagdad, der den nahezu allmächtigen General Kassem Soleimani und führende Terroristen der schiitischen Miliz im Irak aus dem Gefechtsfeld herausoperierte, dem Regime eine klare Botschaft gesendet: Wir können jeden von euch treffen, jederzeit und egal, wo ihr seid. Zum anderen beruhigt Trump die Mullarchie, wenn er sagt, es gehe ihm nicht um einen Regimewechsel im Iran. Das hat man in Teheran gehört.

Die zweite Botschaft mag unglaubwürdig sein, aber eines haben die Mullahs bei allem religiösen Eifer begriffen: Wir sind militärisch hoffnungslos unterlegen, ein Krieg würde den Untergang beschleunigen, sogar der Terror zahlt sich im Moment nicht aus. Zum Überleben müssen wir mit dem „Großen Satan“ ins Gespräch kommen. Das sind Reste logischen Denkens. Und da die Mullahs selbst nicht auf Wahlen zu achten haben – das Parlament ist unbedeutend, der über der weltlichen Macht thronende Wächterrat entscheidet über die Zulassung von Kandidaten –, beseelt sie vielleicht auch die Hoffnung, daß Trump nicht mehr lange im Weißen Haus wohnen und Allah ihnen wieder einen Präsidenten wie Obama schenken möge. Mit anderen Worten: Die Mullahs werden auf Zeit spielen. Ihr Dilemma ist, daß die Sanktionen wirken und niemand weiß, wie lange das Volk noch darben kann oder will.





Die Absturz-Lüge

Tagelang hat das Regime die Version verkündet, der Absturz von Flug PS752 der ukrainischen Fluggesellschaft MAU am Mittwoch früh auf dem Weg von Teheran nach Kiew sei durch technische Fehler verursacht worden. Erst nach Aussagen westlicher Geheimdienste, abgestützt durch eindeutige Filmaufnahmen, die auch im Netz kursierten, kam das Eingeständnis, daß das Verkehrsflugzeug Boeing 737-800 mit 176 Menschen an Bord durch die iranische Raketen- und Flugabwehr abgeschossen wurde. Die Erkenntnis selbst war schon kurz nach dem Abschuß klar. Denn den Angehörigen der Opfer hatte man verboten, mit Journalisten zu reden, und die Spuren an der Absturzstelle waren beseitigt worden. Auch der Hergang war schnell rekonstruiert: Die Abstimmung zwischen militärischen und zivilen Stellen am Flughafen Teheran war nach den Raketenangriffen der Iraner auf amerikanische Lager chaotisch und hysterisch. Man erwartete einen Gegenschlag, es mußte in Sekunden entschieden werden. Die einzig sinnvolle Maßnahme wäre gewesen, den Imam-Khamenei-Flughafen zu schließen. (jli)