© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Kliniken reagieren auf falsche Preise
Gesundheitsökonomie: Fallpauschalen – gute Idee mit schlechter Umsetzung / Unter- und Fehlversorgung
Dirk Meyer

Die „Ökonomisierung“ im Gesundheitswesen gerät zu einem geflügelten Schlagwort. Doch die Abwägung von Kosten und Nutzen ist immer dann geboten, wenn Mittel knapp sind. Daß dies so ist, zeigen lange Wartezeiten bei OPs und Spezialisten bis hin zu zeitweiligen Betten-Stillegungen aufgrund von fehlenden Pflegekräften. Die Mittel müssen dann rationiert, also zugeteilt werden. Dies geschieht im Regelfall durch Preise, die durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden.

In einem System, das den Zugang zu gesundheitlich notwendigen Leistungen nicht dem Geldbeutel überlassen möchte, fehlt diese freie Preisbildung. Sie wird durch zentrale Aushandlungen der Krankenkassen mit den Krankenhausgesellschaften und Ärzteverbänden unter Mitwirkung des Staates ersetzt. Bis 1996 wurden Kliniken nach tagesgleichen, leistungsundifferenzierten Pflegesätzen entgolten – losgelöst vom Leistungsgeschehen. Für aufwendige Behandlungen gab es eine Einzelleistungsvergütung. Beides führte zu Unwirtschaftlichkeiten: Patienten wurden lange einbehalten, da die reinen „Hotelkosten“ zusätzlicher Tage hohe Gewinne brachten. Medizinisch nicht notwendige Leistungen waren lukrativ, wenn sie Gewinn abwarfen.

Deshalb wurde von 1996 bis 2004 das Fallpauschalensystem (Diagnosis Related Groups-System/DRG) eingeführt. Geld gibt es seitdem für die Hauptdiagnose eines Patienten – losgelöst vom konkreten Fall, orientiert an den Durchschnittskosten einer Diagnose. Mit dieser Pauschale müssen die Kliniken klarkommen. Die Folge: Selektion und bloß keine Patientenaufnahmen, die Komplikationen erwarten lassen. „Blutige Entlassungen“ und ein Drehtüreffekt beschreiben sarkastisch die Anreize zur Unterversorgung. All dies zeigt, auch Krankenhäuser reagieren auf geldliche Anreize – allerdings muß man sie richtig setzen. Hier liegt das Problem.

Ein aktuelles Beispiel liefert der Versorgungsnotstand in der Kinderheilkunde. Ursache sind Fallpauschalen, die das Leistungsgeschehen in den Kinderkliniken nur unzureichend abbilden. Zwar gibt es 313 spezielle Kinder-DRGs, doch erfassen diese vorwiegend relativ hoch bewertete Prozeduren wie Operieren, minimalinvasiv-endoskopische Behandlungen oder das Beatmen. Pflege und kindgerechte Zuwendungen – generell der Zeitfaktor – werden hingegen nur unzureichend in den Preisen abgebildet. Hieraus resultieren erhebliche Erlösunterschiede zwischen den Kinderabteilungen. Ertragsstark sind hochspezialisierte und geräteintensive Abteilungen wie die Neonatologie (Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen) und die Kinderkrebsstationen. Demgegenüber geraten die Allgemeinpädiatrie und Bereiche der pädiatrischen Inneren Medizin (Atemwege, Drüsenerkrankungen) aufgrund hoher zuwendungsintensiver Kostenanteile zu Verlustbringern.

Ärzte in ethischen Konfliktsituationen

Klinikleitungen reagieren, indem sie Personal und Ressourcen vorrangig in ertragreiche Bereiche lenken. Die Folge dieser ökonomisch bedingten Umstrukturierung sind einerseits Überversorgungen und andererseits Unterversorgungen für Notfälle, chronisch, komplex- und schwerkranke Kinder. Für die Mitarbeiter entstehen ethische Konfliktsituationen, wenn eine medizinisch-kindgerechte Behandlung nur unter Verlusten möglich wird. Eine Quersubventionierung aus ertragreichen Klinikbereichen sowie Spenden/Drittmittel können da keine Dauerlösung sein.

Gemäß der Ceres-Studie der Universität Köln ist eine zeit- und wohnortnahe Versorgung akut gefährdet. Eine Verlegung in weit entfernte Kliniken sei insbesondere in den Herbst-/Wintermonaten mit Bronchitiden, Lungenentzündungen oder Magen-Darm-Erkrankungen nicht selten. Seit 1991 wurden vier von zehn Betten in Kinderkliniken abgebaut, 20 Prozent der Kinderabteilungen ganz geschlossen. Notwendig wären kosten­orientierte Kinder-Fallpauschalen sowie der Ausbau teilstationärer und tagesklinischer Angebote.

Ein zweites Beispiel bietet der Abbau allgemein-internistischer Abteilungen. Ähnlich dem Allgemeinmediziner dient die „Innere“ als Anlaufstelle für Patienten mit einem breiten Spektrum an Erkrankungen. Nur im Ausnahmefall erfolgt eine Verlegung in eine weitere Fachabteilung. Dies spart Kosten und bietet eine umfassende Versorgung gerade bei Mehrfach-Diagnosen, die in 90 Prozent der Einweisungen in internistische Abteilungen vorliegen.

Ein Problem der Fallpauschalen ist die Orientierung an der Hauptdiagnose. Im Behandlungsgeschehen werden deshalb häufig die weiteren Erkrankungen vernachlässigt. Zusätzliche Nebendiagnosen bei multimorbiden Patienten werden zwar berücksichtigt. Sie steigern die Fallpauschale jedoch weniger als ein neuer Fall. Teilweise führen multimorbide Fälle deshalb zu Verlusten für die Abteilung. Multimorbide Patienten sind weniger lukrativ.

Doch gerade bei einer älter werdenden Gesellschaft treten Mehrfacherkrankungen vermehrt auf. Aufgrund der Entgeltstruktur geht der Trend jedoch in die gegenläufige Richtung: Allgemein-internistische Abteilungen werden zugunsten von Fachabteilungen reduziert oder gar geschlossen. Die Folge sind bereits jetzt schon überlastete Notaufnahmen, die erst nach einer gewissen Verweildauer die fachlich notwendige Überstellung in eine Fachabteilung vornehmen.

Eine Anpassung des Fallpauschalensystems in Richtung Mehrfacherkrankungen dürfte die einzige Lösung sein. Die Zunahme älterer Menschen mit multimorbiden Diagnosen sowie der Anstieg der Geburten seit 2012 mit einem Niveausprung 2016 – unter anderem durch Flüchtlingszuwanderung – gebieten ein schnelles Handeln. Ob die ab diesem Jahr mögliche Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus den DRG-Fallpauschalen in ein krankenhausindividuelles Pflegebudget Abhilfe schafft, ist fraglich.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.





Kostenentwicklung der Krankenhäuser

Die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Deutschlands haben im Jahr 2018 über 239 Milliarden Euro ausgegeben und 241 Milliarden Euro eingenommen. 2017 wurden noch rund 225 Milliarden Euro ausgegeben. Die 109 Gesetzlichen Krankenkassen versichern und versorgen fast 73 Millionen Menschen in Deutschland. Der Markt ist riesig und wächst. Gleichzeitig schließen Krankenhäuser. 2017 gab es 1.942 dieser Gesundheitseinrichtungen, die 19,44 Millionen Fälle betreuten. Zehn Jahre zuvor waren es noch 2.087 Häuser, die 17,17 Millionen Fälle behandelten. Zusätzlich konnten die Krankenhäuser im gleichen Zeitraum die Verweildauer um einen vollen Tag von durchschnittlich 8,3 Tagen auf 7,3 Tage senken. Die Bettenauslastung in Deutschlands Krankenhäusern hat sich stabilisiert, sie pendelt im genannten Zeitraum zwischen 77,2 Prozent 2007 und 77,9 Prozent 2016. Während sie 1991 noch bei 84,1 Prozent lag, ist sie im letzten Jahr, für das die Daten verfügbar sind, 2017, bei 77,8 Prozent angekommen.