© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Aus dem Labyrinth herausfinden
Revuetheater auf Zelluloid: Der italienische Filmmagier Federico Fellini, der am 20. Januar hundert Jahre alt geworden wäre, setzte die Bilder in seinem Kopf auf der Kinoleinwand frei
Dietmar Mehrens

Die Duschszene in „Psycho“, der abgeschnittene Pferdekopf in „Der Pate“, Anita Ekberg im Trevi-Brunnen: wer Kinobilder erschaffen hat, die sofort vor dem geistigen Auge des Cineasten aufsteigen, wenn er nur den Namen des Regisseurs hört, der hat seinen Platz im Olymp der Filmkunst sicher. Es ist eine Art siebter Sinn für die Magie des Bildes, ein Gespür für Bilder, die zugleich Symbol und Erzählung sind, die die Filmemacher auszeichnen, die es dorthin geschafft haben.

Federico Fellinis Filme sind übervoll von solchen Bildern. Wer sich auf einen Fellini-Film einläßt, muß wissen, was ihn erwartet: Er begibt sich ins Jenseits. Zum einen, weil der Regisseur, insbesondere ab den sechziger Jahren unter dem Einfluß des Psychoanalytikers und C. G. Jung-Adepten Ernst Bernhard, oft das Jenseitige, Metaphysische, die Welt des Unterbewußtseins in seine Filme hineinließ, vor allem aber, weil er sich mit Vorliebe in die filmisch unerschlossenen Gebiete jenseits der Sehgewohnheiten vortastete. Die plumpe Wiederholung bekannter Muster langweilte ihn. Einige seiner Filme haben mehr mit einem abstrakten Gemälde gemeinsam als mit einer stringenten Erzählung in bewegten Bildern. „Bilder vor Gedanken, sinnliche Heimsuchungen vor gedanklichen Konstruktionen, ein Labyrinth, aus dem man sich, filmend, herausarbeitet, anstelle eines durchdachten Plots“, so charakterisierte der Spiegel den 1920 in Rimini Geborenen 1993 in einem Nachruf. Die Labyrinth-Metapher stammt von Fellini selbst. Er müsse da herausfinden, sagte er in einem Interview, um einem neuen Film „auf die Schliche zu kommen“. Das Ergebnis war meist mehr Burleske als Drama.

Mit Zeitungskarikaturen hatte er begonnen, nachdem er 1939 als junger Mann in die italienische Hauptstadt gezogen war. Karikaturen glichen später auch viele seiner Filmfiguren. Den Beginn seiner Kinokarriere markiert im Jahr 1944, als Italien noch von den Deutschen besetzt war, die Mitarbeit am Drehbuch zu Roberto Rossellinis „Rom – offene Stadt“ (1945), einem der stilbildenden Filme des italienischen Neorealismus.

In der Tradition des Neorealismus standen auch Fellinis erste eigene Filme, namentlich „La strada – Das Lied der Straße“ von 1954, in dem wie bereits in seinem Regiedebüt „Lichter des Varieté“ von 1950 seine Ehefrau Giulietta Masina zur Darstellerriege gehörte. Masina, die Fellini beim Studententheater kennengelernt und 1943 geheiratet hatte, spielt in „La strada“ die mittellose Gelsomina, die sich als Straßentheaterclown verdingt. Sie verbindet eine Art Haßliebe mit dem Schausteller Zampanò (Anthony Quinn), der den starken Mann markiert und damit sowohl den „großen Zampano“ zum geflügelten Wort machte als auch die Masina in der Rolle seines Widerparts zum umjubelten Star. Ihr Mann Federico hatte bereits mit seinem dritten Film „Die Müßiggänger“ (1953) den Durchbruch geschafft. „Das Lied der Straße“ machte ihn nun zum international gefeierten Regie-Wunderkind. Der Film gewann den Silbernen Löwen beim Filmfestival in Venedig und einen Oscar.

Trotzdem war in der jungen Ehe nicht alles eitel Sonnenschein: Ihr erstes Kind war den beiden jung Vermählten 1945 kurz nach der Geburt gestorben. Die Ehe blieb kinderlos, aber sie hielt, bis der Tod sie 1993 schied. In seinem erfolgreichsten Film der Spätphase, „Ginger und Fred“ (1986), einer bissigen Satire auf die Schein-Welt von Fernsehinszenierungen, übernahm Giulietta Masina noch einmal eine Rolle unter der Regie ihres Mannes: Sie verkörpert den weiblichen Teil eines Tanzduos, das für eine TV-Show in die Fußstapfen von Ginger Rogers und Fred Astaire treten soll. Den männlichen Part übernahm Fellinis bevorzugter männlicher Hauptdarsteller Marcello Mastroianni.

Die ertragreiche Studio-Symbiose mit dem berühmten Mimen begann 1960 mit dem Kultfilm „Das süße Leben“. Mastroianni spielt darin den Schürzenjäger und Paparazzo Marcello Rubini, der, ständig auf der Suche nach spektakulären Bildern und Geschichten, dem Filmstar Sylvia (Anita Ekberg) nachsteigt. Gemeinsam streifen sie durch das nächtliche Rom und landen schließlich nicht gemeinsam ohne Kleidung im Bett, sondern gemeinsam mit Kleidung im berühmten Trevi-Brunnen: so schreibt man Filmgeschichte.

Die Zusammenarbeit mit Marcello Mastroianni trieb Fellinis künstlerisches Schaffen auf den Höhepunkt. Lediglich unterbrochen durch „Die Versuchung des Doktor Antonio“, seinen Beitrag für den Episodenfilm „Boccaccio 70“ (1962), einen sarkastischen Angriff auf selbsternannte Tugendwächter, die der Film in „Professor Unrat“-Manier als scheinheilig und bigott karikiert, folgt 1963 mit „Achteinhalb“ gleich der nächste Film mit dem italienischen Filmstar in der Hauptrolle. Er verkörpert darin, als fiktionalisiertes Abbild des Mannes auf dem Regiestuhl, den Regisseur Guido Anselmi, dem die aktuelle Produktion über den Kopf wächst und der sich in bizarre Tagträume flüchtet.

Wie bereits zuvor in „Die Versuchung des Doktor Antonio“ nehmen in dem Film surreal-träumerische Sequenzen breiten Raum ein. Deutlich wird, wie schwer es Fellini zuweilen gefallen sein muß, die Bilder, die in seinem Kopf herumschwirrten, zu einer logisch aufgebauten Filmerzählung zusammenzufügen. Folgerichtig entzieht sich das halb-autobiographische Werk, das die Mühsale der Umsetzung seines achten Filmprojekts thematisiert, auch einer solchen Logik. Am Ende spricht der Regisseur sich in Gestalt seines Alter ego Anselmi gleichsam selbst Mut zu, indem er ihn sagen läßt: „Das Leben ist ein Fest. Leben wir!“ 

Mit diesen Worten könnte man auch Fellinis Lebensphilosophie umreißen, die Berührungspunkte mit der Bourgeoisie-Kritik der Hippie- und Studentenbewegung erkennen läßt. Parallel zu den sozialen Auf- und Ablösungserscheinungen lösen sich in Fellinis filmischen Gesellschaftsporträts der Sechziger und Siebziger die Strukturen des logisch-linearen Erzählens auf. Kaleidoskop, Collage, Bilderbogen sind typische Begriffe, auf die man in Besprechungen der in dieser Zeit entstandenen Werke stößt.

Den Extremfall dieser ästhetischen Ablösung von der Konvention bildet das krude, exzentrische Filmexperiment „Satyricon“, die Verfilmung des gleichnamigen Romanfragments, das der römische Dichter Petronius, ein Zeitgenosse des irren Kaisers Nero, der Nachwelt hinterließ. Aus heutiger Sicht ist „Satyricon“ mit seinen Hauptfiguren Encolpius und Ascyltus, den Vertretern einer gebildeten jugendlichen Elite, vor allem zu lesen als satirischer Kommentar zu der hedonistischen Selbstbezogenheit und Depravationslust, denen im Jahr der Fellini-Verfilmung (1969) vor allem studentische Kreise verfallen waren. Petronius hatte ins Zentrum seines Werks die Weltanschauung des Epikur gestellt, der im Leben selbst den Sinn des Daseins sehen wollte. In Anbetracht der sittlichen Verwahrlosung, die in „Fellinis Satyricon“ in einem Aufruf zum Kannibalismus gipfelt, wirkt Epikurs Diesseitsphilosophie allerdings nicht wie der Stein der Weisen zur ultimativen Rettung des Abendlandes. Das macht den schwer erträglichen Ausflug des Filmemachers in spätrömische Dekadenz, der für den US-Markt den Untertitel „Die Degenerierten“ trug, schon fast zu einer Prophetie der gegenwärtigen Selbstauslöschungstendenzen in den Zivilisationen des Westens.

Ganz im Trend der Vergangenheitsbewältigung, die ein zentrales Postulat der Studentenbewegung war, lagen die beiden nächsten, etwas zahmeren Filme, „Fellinis Roma“ (1972) und „Amarcord“ (1973), die beide auf die Zeit des italienischen Faschismus zurückblickten. Welchen Ansatz der Meister des Autorenfilms für das heikle Thema wählte, veranschaulicht am besten eine Szene aus „Amarcord“. Fellini, der in dem Film Jugenderinnerungen aus seiner Geburtsstadt Rimini verarbeitete, läßt am Tage von Feierlichkeiten zu Ehren des „Duce“ abends von einem Kirchturm die kommunistische „Internationale“ erklingen. Mussolinis Männer eröffnen entschlossen das Feuer und schießen ein Grammophon vom Turm. Bei allem Witz im Detail ist aber auch „Amarcord“ weniger das Werk eines großen Erzählers als das eines Montagekünstlers, dessen besondere Gabe darin besteht, eindrückliche Einzelszenen zu einer abwechslungsreichen Revue zusammenzustellen.

Mit seiner Lust an der satirischen Überhöhung hat Fellini unübersehbar den Nerv der kulturellen Eliten sowohl in Europa als auch in Amerika getroffen. Er war der Dauerabräumer in der Oscar-Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“: „Das Lied der Straße“, „Die Nächte der Cabiria“ (1957), „Achteinhalb“ und „Amarcord“ wurden mit der Trophäe geehrt. Hinzu kommen acht Nominierungen für das beste Drehbuch und vier für die beste Regie („Das süße Leben“, „Achteinhalb“, „Fellinis Satyricon“ und „Amarcord“).

Alfred Hitchcock wurde unter anderem für ein Glas Milch bekannt, in dem er beim Dreh von „Verdacht“ (1941) eine Glühbirne unterbrachte, um den Zuschauer durch diesen gemeinen Anschlag auf sein Unterbewußtsein an den Gegenstand zu fesseln. In „Boccaccio 70“ ist es eine großflächige Milchreklametafel mit Anita Ekberg, die den sittenstrengen Doktor Antonio in geistig-moralische Verwirrung stürzt. Auslöser dieser Verwirrung ist neben der schönen Schwedin, die aus dem Plakat steigt, ein Glas Milch, das sich genauso verselbständigt. Es sind eben manchmal die kleinen Details, an denen man die innere Verbindung zwischen den großen Künstlern aus dem Film-Olymp erkennt.