© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Hinter den feindlichen Linien
Kino II: Das Kriegsdrama „1917“ von Sam Mendes handelt von einem Himmelfahrtskommando britischer Soldaten in Nordfrankreich
Dietmar Mehrens

In „Wem die Stunde schlägt“, Ernest Hemingways Roman über den Spanischen Bürgerkrieg, gibt es einen Nebenstrang, in dem der Partisan Andrés mit einer Depesche auf dem Weg zu den republikanischen Linien ist, um General Golz von einem Angriff abzuhalten, der im Morgengrauen hinter Navacerrada stattfinden soll. Es geht um Leben und Tod und um jede Sekunde, denn sollte die Depesche zu spät eintreffen, werden die republikanischen Truppen in ihr Verderben rennen.

Der britische Regisseur Sam Mendes, der durch US-Befindlichkeitsdramen wie „American Beauty“ (1999) und „Zeiten des  Aufruhrs“ (2008) zu Ruhm und Ehren gelangte, hat Andrés für seinen neuen Film „1917“ aus dem legendären Hemingway-Roman herausgeschält und seine halsbrecherische Mission in den Ersten Weltkrieg verpflanzt, genauer gesagt an die Front zwischen Deutschen und Alliierten bei Ecoust in Nordfrankreich, wo Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch) drauf und dran ist, mit seinem Bataillon, 1.600 Mann, den Deutschen in die Falle zu gehen.

Es beginnt in blühenden Landschaften, und es wird auch so enden: das Himmelfahrtskommando, in das Lance Corporal Schofield (George MacKay) und Lance Corporal Blake (Dean-Charles Chapman) am 6. April 1917 geschickt werden. Am Ende wird einer von beiden tot und der andere sich wundern, noch am Leben zu sein.

Ständige Angst vor einem jähen Tod 

Für die filmische Umsetzung ihres Auftrags, sich auf Gedeih und Verderb hinter den feindlichen Linien bis zum Befehlsstand von Mackenzie durchzuschlagen, hat sich Sam Mendes etwas Besonderes ausgedacht: Wie Sebastian Schipper in seinem Experimentalfilm „Victoria“ (2015) setzt er die Filmhandlung mit einer einzigen Kameraeinstellung um, das heißt ohne Schnitt.

Wenn die beiden Abkommandierten sich durch leichenübersäte Mondlandschaften robben oder durch verminte Unterstände tasten, haben sie dabei zwei erbarmungslose Begleiter: die ständige Angst vor einem jähen Tod und die Kamera, die jede Regung mit kalter Unbestechlichkeit festhält. Das verleiht dem Film eine geradezu quälende Eindringlichkeit und Intensität. Dem Regisseur war klar: Um dem Grauen des Stellungskriegs nach Klassikern wie „Im Westen nichts Neues“ (1930) und „Wege zum Ruhm“ (1957) noch eine neue Facette abzugewinnen, war ein eigener, ein eigenwilliger künstlerischer Ansatz nötig.

In seiner dritten Arbeit für die große Leinwand, dem Golfkriegsdrama „Jarhead – Willkommen im Dreck“, war ihm das 2005 ebenfalls gelungen. „Jarhead“ nimmt vor allem die psychischen Herausforderungen des Krieges ins Visier, „1917“ die physischen. Beiden gemeinsam ist die surrealistisch anmutende Bildsprache, die Mendes auf der Zielgeraden seiner Filmerzählungen für den Irrsinn des Krieges findet und sie damit auch visuell zum Höhepunkt treibt.

Seinen Helden hat er bis zu diesem Zeitpunkt jedoch so oft in ausweglose Lagen und tödliche Gefahren gebracht, daß man kaum noch an ein realistisches Szenario glauben kann. Die Stärke ist somit zugleich die Schwäche des Films: Die zwei Stunden werden nie langweilig, die Identifikation mit dem Helden jedoch bleibt nach und nach auf der Strecke. Mendes gibt zwar an, in seinem Drehbuch Erinnerungen seines eigenen Großvaters Alfred Mendes verarbeitet zu haben; die Unverwüstlichkeit, mit der der junge Soldat die vielen lebensbedrohlichen Stationen seiner selbstmörderischen Mission bewältigt, läßt aber erkennen, daß der Regisseur sich reichlich künstlerische Freiheit nahm und den James-Bond-Actionhelden-Modus nicht ganz abschütteln konnte. Bei den letzten beiden Folgen der Endlos-Agentenserie, „Skyfall“ und „Spec-tre“, hatte Mendes nämlich vor „1917“ Regie geführt.