© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Vernunfterosionen auch in der Analyse
Demokratie braucht Erziehung und Bildung: Ohne sie fehlen elementare Voraussetzungen für vernünftiges Zusammenleben
Dirk Glaser

Der Baron de Montesquieu postulierte als erster politischer Theoretiker der frühen Neuzeit einen Zusammenhang von Regierungsform und Erziehungsform. Monarchische Regime erzwingen, so führt er in seinem Hauptwerk „Esprit des Loix“ (1748) aus, Gehorsam mit Macht, die sie bis zur Herrschaft des Schreckens steigern können. Anders verhielte es sich in Republiken. Sie existierten nur, wenn die Erziehung der Untertanen für „Tugend“ sorge, für willentliches Befolgen der Gesetze.

Um diesen Willen hervorzulocken, zu formen und zur Mitgestaltung demokratischer Gemeinwesen zu befähigen, ist Bildung erforderlich. „Schulbildung für alle“, so mahnt der emeritierte Pädagoge Jürgen Oelkers (Zürich) in seinem Essay über „Montesquieu und Rousseau im Zeitalter Trumps“ (Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 3/2019), sei die „zentrale Bedingung für politische Teilhabe“. Das hätten schon die englischen Frühaufklärer John Trenchard und Thomas Gordon in ihren „Cato’s Letters“ (1720–1723) so dekretiert, die nicht von ungefähr zur Standardlektüre in den dreizehn Kolonien zählten, die sich ab 1776 als Vereinigte Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erkämpften. Wie Trenchard und Gordon ebenfalls schon lehrten, soll die öffentliche Auseinandersetzung von – nicht im formal-akademischen Sinn – gebildeten, nach vernünftigen, praktikablen Lösungen sozialer Probleme suchender Bürgern das Fundament der Demokratie sein. 

Auch im 19. Jahrhundert und erst recht während der großen Einwanderungswellen, die auf die USA vor dem Ersten Weltkrieg zurollten, galt das in staatlichen Schulen vermittelte Ideal des fairen öffentlichen Streits unter Gleichberechtigten als Fundament der Demokratie. Die politische Grundeinheit für Wahlen und Entscheidungen sei dabei stets das Volk gewesen, verstanden als Korpus der Wahlberechtigten, absehend von „Rasse, Religion, Geschlecht, Ethnie“. Allerdings sei immer ein hoher Standard von Bildung vorausgesetzt worden, um im „anspruchsvollen Diskurs“ politisch vernünftige Regelungen erzielen zu können. Das Modell für diese Form der Öffentlichkeit sei zwar nicht das Universitätsseminar gewesen. Aber eine tendenzielle Orientierung daran sei nicht zu leugnen, da nun einmal „reflexives Zusammenleben in der Gesellschaft“, die Bewältigung „existentieller“ Probleme, die Partizipation an und das Verständnis von politischen Prozessen ein „Grundmaß an Bildung für alle“ verlange. Daher hänge die Stabilität einer Demokratie von der Gewährleistung hoher „Qualitätsbedingungen“ in Erziehung, Unterricht und Bildung ab.

Nun habe sich aber in den letzten dreißig Jahren mit dem Internet ein tiefer Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzogen, die heute als „Öffentlichkeit ohne Bürger“ keine aus dem 18. Jahrhundert stammenden „Niveauforderungen“ mehr akzeptiere. Ursachen dieser Zunahme des Epiphänomens öffentliche Irrationalität, der parallel verlaufenden Vernunfterosion und dem Demokratieabbau, vermag der Bildungshistoriker Oelkers jedoch nicht zu nennen. Lieber zeigt er ersatzweise auf die üblichen Verdächtigen: „Populisten und Autokraten“ wie den US-Präsidenten Donald Trump. Für einen eher nach links neigenden deutschen Professor sind daher nicht die Berliner und Brüsseler „Eliten“ dabei, mit ihren vernunftfernen und postdemokratischen Experimenten –  Euro-Einheitswährung, Nullzins, Masseneinwanderung oder Green New Deal – das in alteuropäisch-liberalen Staatstheorien gepflegte Menschenbild des „souveränen Bürgers“ auf den Müllhaufen der Geschichte klimafreundlich zu entsorgen. Sondern Feinde der „demokratischen Erziehung“, die die „weltanschaulich neutrale und staatlich kontrollierte Bildung mit allen medialen Mitteln“ attackieren. 

Wie gewohnt, bleibt die anhebende Zerstörung des staatlichen deutschen Schulsystems durch Massenmigration genauso unerwähnt wie die Gefährdung seiner weltanschaulichen Neutralität durch schleichende, schon in Kantine und Turnhalle spürbare Islamisierung. Dafür weiß Oelkers ausufernd zu lamentieren über „christlichen Fundamentalismus“, der unter Trumps Ägide das US-Schulsystem aushöhle. Oder über Zustände in Israel, wo 2015 ein Exponent der religiösen Siedlerpartei „Das jüdische Heim“ das Erziehungsministerium übernahm und die Lehrmittel staatlicher Primarschulen „im Sinne der jüdischen Orthodoxie umgestaltet“. Überall sieht Oelkers das lediglich internationalen Großspekulanten, UN-Umsiedlungsplanern, bundesdeutschen Scharia-Freunden, Endzeitgläubigen und der Klimakirche noch am Herzen liegende „Projekt Aufklärung“ (Jürgen Habermas) unter Beschuß.