© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Wenn die Tür ins Schloß fällt
Auswanderungsland Deutschland: Warum immer mehr Deutsche ihrer Heimat den Rücken kehren
Michael Paulwitz

Deutschland ist ein Einwanderungsland: Quer durch alle etablierten Parteien wird dieses Mantra kritiklos nachgebetet. Der Satz ist eine ideologische Beschwörung mit Nötigungscharakter, aber keine Tatsachenfeststellung. Denn Deutschland verhält sich bis heute nicht wie ein echtes Einwanderungsland, das potentielle Einwanderer nach Qualifikation, Potential und volkswirtschaftlichem Nutzen aussiebt und ungeeigneten Bewerbern rigoros seine Türen verschließt. Statt dessen ist Deutschland selbst wieder zum Auswanderungsland geworden.

180.000 Bundesbürger kehren im Schnitt jedes Jahr ihrer Heimat den Rücken, 1,8 Millionen waren es im zurückliegenden Jahrzehnt, hat zuletzt das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in einer Studie festgehalten. Überwiegend sind es die Jungen und Hochqualifizierten, die gehen, Akademiker, Fachkräfte und Absolventen mit höheren Bildungsabschlüssen.

Im Schnitt sind die Abwanderer 36 Jahre alt, zehn Jahre jünger als der Durchschnitt; drei Viertel von ihnen sind Akademiker, obwohl diese nur rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Die meisten zieht es in die Schweiz, noch vor den USA, Österreich und Großbritannien. Fast immer geben sie an, in der neuen Wahlheimat deutlich mehr zu verdienen.

Wer das achselzuckend mit dem Verweis auf Globalisierung und offene internationale Arbeitsmärkte abtut und dagegenhält, es kehrten ja auch viele zurück, der macht es sich zu leicht. Die Zahl der Rückkehrer lag in den letzten zehn Jahren im Schnitt nur bei knapp 130.000, jährlich ist also eine Mittelstadt von 50.000 Hochqualifizierten verlorengegangen.

Gerade bei der schrumpfenden Klientel der Jungen und Qualifizierten haben auch kleinere Abwanderungszahlen große Auswirkungen. Tatsächlich dürfte die Zahl der Auswanderer sogar noch höher liegen, da viele lange zögern, die Bindungen ganz zu kappen, noch einen Nebenwohnsitz in Deutschland behalten und sich erst spät oder auch gar nicht abmelden.

Nicht nur demographisch, auch volkswirtschaftlich ist die Abwanderung ein dramatisches Verlustgeschäft. Das Münchner Ifo-Institut hat es schon vor mehr als einem Jahrzehnt vorgerechnet: Wandern junge Hochqualifizierte ins Ausland ab, gehen der Allgemeinheit nicht nur die bereits in sie investierten Ausbildungskosten verloren, sondern auch die Einnahmen an Steuern und Sozialabgaben, die sie künftig generieren würden.

Bei einem 23jährigen Facharbeiter summiert sich der Verlust auf rund 281.000 Euro, bei einer 30 Jahre alten Ärztin auf mehr als eine Million. Die Zahlen von 2009 sind in der Zwischenzeit mit Sicherheit nicht kleiner geworden, die Forderung, vorrangig im eigenen Land ausgebildete junge Menschen im Lande zu halten und ihre Abwanderung zu verhindern, verhallte damals schon genauso ungehört wie heute.

Vor dieser Bestandsaufnahme gerät die Leier vom „Fachkräftemangel“, die Politik und Wirtschaftsverbände im Wechselgesang vortragen, zur Groteske. Denn die Gründe, die gut ausgebildete Deutsche ins Ausland treiben, sind die gleichen, die viele hochqualifizierte Ausländer veranlassen, im Zweifelsfalle eher einen Bogen um Deutschland zu machen.

Vergleichsweise niedrige Gehälter bei hohen Steuer- und Abgabenlasten schrecken ebenso ab wie unterfinanzierte und bescheiden ausgestattete Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen, bürokratische Hemmnisse und ideologische Blockaden, die Forschern, Wissenschaftlern, Gründern und Pionieren Steine in den Weg legen.

Ein angestellter Assistenzarzt an einem deutschen Krankenhaus, zählte die NZZ vor Monaten auf, verdiente 2018 mit brutto 81.000 Euro jährlich nur ein paar tausend Dollar mehr als ein Lastwagenfahrer bei der US-Supermarktkette Walmart. Nach Steuern hatte der Lkw-Lenker netto sogar mehr in der Tasche. Dem angestellten Mediziner winken in den USA oder Australien Gehälter in dreifacher Höhe, in der Schweiz oder bei den skandinavischen Nachbarn kann er immer noch das Doppelte verdienen – bei besseren Arbeitsbedingungen und höherer Wertschätzung.

Statt an diesen Stellschrauben zu drehen und die eigenen Hochqualifizierten mit angemessener Bezahlung und attraktiven Konditionen im Land zu halten, sehen Migrationspolitiker und -lobbyisten in der Abwerbung ausländischer Fachkräfte das Patentrezept. Dem Potentialabfluß aus dem eigenen Land soll also durch Potentialabzug aus anderen Ländern begegnet werden.

Volkswirtschaftlich kann diese Rechnung nicht aufgehen. Die Spitzenleute wird man so nicht bekommen; wer es sich aussuchen kann, wird das beste Angebot wählen und sich hüten, sich für den deutschen Hochsteuer- und Bürokratiestaat ausbeuten zu lassen. Wohl aber wird man Arbeitskräfte aus ärmeren und geringer entwickelten Ländern anlocken, die die Lücken zwar nicht schließen, aber in ihrer Heimat bitter fehlen; ihre Abwerbung hinterläßt dazu den üblen Geruch des Neokolonialismus.

Echte Einwanderungsländer profitieren vom Zuzug der Besten und verzeichnen selbst kaum Abwanderung. Hohe Auswanderungsraten sind typisch für unterentwickelte und Schwellenländer; Deutschland geht gerade den umgekehrten Weg, den es im 19. Jahrhundert gegangen ist.

Attraktiv für Einwanderung ist Deutschland dennoch, freilich vor allem für Einwanderer in die Sozialsysteme. Das Gros der kürzlich ins Land gelassenen Migrantenmillionen ist dort gelandet. Deutschland importiert Sozialleistungs- und Transferempfänger und exportiert im Gegenzug die Fachkräfte, die nicht zuletzt gebraucht würden, um die überlasteten Sozialsysteme weiterzufinanzieren. Man muß kein Ökonom sein, um auszurechnen, daß dies auf Dauer nicht gutgehen kann. (siehe auch Seite 3)