© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Die teuerste Gier aller Zeiten
Flugzeugindustrie: Weiteres Softwareproblem bei der Boeing 737 Max / Airbus kann kurzfristig nicht von der Misere profitieren
Fabian Schmidt-Ahmad

Am 22. Januar 1970 stieg eine Boeing 747 in den Farben von Pan Am zum ersten kommerziellen Flug auf. Es folgten die ersten Nonstopflüge zwischen New York und Tokio. Das waren goldene Zeiten für die beiden Unternehmen. Doch mit dem europäischen Airbus-Konsortium und dem US-Airline Deregulation Act von 1978 wuchs die Konkurrenz. 1991 wurde Pan Am vom US-Wettbewerber Delta übernommen, und Boeing ist schwer angeschlagen. Das Sorgenkind des Flugzeugbauers, die 737 Max, bleibt weiterhin am Boden. Eigentlich wollte der Konzern zusammen mit der amerikanischen Flugaufsichtsbehörde (FAA) im Januar einen wichtigen Prüfflug durchführen, doch nach weiteren Software-Problemen ist der Termin wieder offen.

Im Oktober 2018 stürzte eine nagelneue 737 Max 8 der indonesischen Fluggesellschaft Lion Air vor der Küste Javas ins Meer. Alle 189 Insassen starben. Doch erst der Absturz einer Ethiopian-Airlines-Maschine des gleichen Boeing-Typs, bei dem alle 149 Passagiere und acht Besatzungsmitglieder um Leben kamen, führte im März 2019 zu einem weltweiten „Grounding“: Seitdem stehen die 387 bereits ausgelieferten Exemplare bei den Fluggesellschaften nutzlos herum, denn beim wichtigsten Flugzeugmodell des Konzerns ließen sich massive Fehler in der Steuerungselektronik nicht verheimlichen (JF 13/19).

Lufthansa hat wohlweislich keine 737 Max bestellt, aber von American über Hainan, Norwegian, Ryanair und Southwest bis hin zu TUI, Turkish oder United Airlines warten weltweit Fluggesellschaften auf den Einsatz ihrer ausgelieferten oder bestellten 737 Max. Doch auch ohne die noch strittigen milliardenschweren Entschädigungszahlungen rutscht Konzern in die roten Zahlen. Der Aktienkurs, der sich zwischen 2016 und 2018 auf 300 Dollar verdoppelt hatte, ist zwar weiterhin stabil – Investoren hoffen auf die Erträge der steuerzahlerfinanzierten Rüstungs- und Raumfahrtsparte sowie laufende Erträge der teuren Langstreckenmodelle 767, 777 und des gefragten „Dreamliners“ 787. Im Dezember mußte Boeing die 737-Max-Produktionsstraße stillegen, als selbst das Stammlager Everett (50 Kilometer nördlich von Seattle) überfüllt war. Etwa 400 Exemplare des Unglücksfliegers sollen sich dort drängeln.

Von Clowns entworfen und von Affen beaufsichtigt?

All das hat maßgeblich zu Boeings geschätztem Rekordverlust von einer Milliarde Dollar geführt – pro Monat. Konzernchef Dennis Muilenburg mußte zwar mittlerweile gehen – allerdings mit ihm vertraglich zustehenden 62 Millionen Dollar an Aktienvergütungen und Pensionsansprüchen. Doch die Probleme sind geblieben. Und die lassen sich nicht in bloßen Geldsummen ausdrücken. Der FAA wird vorgeworfen, die 737 Max allzu lasch auf Flugtauglichkeit überprüft zuhaben. Um ihren Ruf wiederherzustellen, werden US-Aufsichtsbehörde und andere Beteiligte nicht umhinkönnen, nun gründlicher vorzugehen. Besonders peinlich sind die von Kongreßabgeordneten veröffentlichten E-Mails aus dem Konzern. Diese legen nahe, daß Boeing-Mitarbeiter die FAA vorsätzlich über Probleme täuschten. Die 737 Max sei ein Flugzeug, „von Clowns entworfen, die von Affen beaufsichtigt werden“ , hieß es dort.

Darin wird die nackte Angst offenbar, bei den Schmalrumpfpassagierflugzeugen weitere Marktanteile an Airbus zu verlieren. Großflugzeuge wie die 777 oder 787 sind prestigeträchtig, aber kein Massengeschäft. Die seit 1967 gebaute Boeing 737 und ihr Konkurrent, die seit 1987 gebaute Airbus-320-Familie, sind mit fast 10.600 beziehungsweise 9.300 bislang produzierten Exemplaren die wahren Zugpferde. Ursprünglich als Zubringer gedacht, sind diese Typen mittlerweile so flexibel und leistungsstark geworden, daß sie insbesondere für Billigfluglinien attraktiv sind. Großraumjets benötigen ein hohes Passagieraufkommen, um rentabel zu sein, was nur auf wenigen Strecken möglich ist. Auch können sie kleinere Flughäfen nicht ansteuern. Ihr Vorteil – große Reichweite, verbunden mit geringen Kosten pro Sitzplatz – wird dagegen durch sparsamere Schmalrumpfmodelle verringert. Und eben das ist das Problem.

Das Grundkonzept der 737 entstand zwei Jahrzehnte vor dem A320, was dem Flieger anzumerken ist. Moderne Triebwerke sind groß und schwer, sie brauchen wesentlich mehr Platz. Der A320 ist dafür bereits ausgelegt, weshalb eine Überarbeitung mit weniger Aufwand möglich ist. Bei der 737 klappt das nicht wirklich. Immerhin konnte sich die in den neunziger Jahren entwickelte 737-600 bis 900 („Next Generation“/NG) zumindest auf dem amerikanischen Markt behaupten. Und Ryanair fliegt bislang ausschließlich mit 737-NG-Maschinen. Der irische Billigflieger hat die weltweit zweitgrößte Flotte dieses Typs.

Vor allem kleinere Fluggesellschaften scheuen die Einführung eines völlig neuen Modells, da hiermit kostspielige Umschulungen von Piloten und Wartungspersonal verbunden sind. Wirklich innovativ ist das freilich nicht. Als Airbus nach der Jahrtausendwende ankündigte, eine neue Generation als A320 Neo zu entwickeln, war die Panik bei Boeing entsprechend groß. Denn eine Neuentwicklung wäre zu spät gekommen, um zu verhindern, daß sich Airbus auch auf dem amerikanischen Markt etabliert.

Eine hastige Überarbeitung der 737 NG zur Max war die Folge – mit bislang 346 Toten. Nicht ganz zu Unrecht dürften sich einige Fluggesellschaften mit der NG im Bestand von Boeing hinters Licht geführt fühlen. Nicht nur erwies sich die Behauptung als Schwindel, 737-Piloten könnten einfach so auf die Max wechseln. Vielleicht noch verheerender ist der Eindruck von Ideenlosigkeit bei der einstigen Qualitätsmarke Boeing. Statt Ingenieurskunst schmutzige Tricks à la VW-Dieselgate – nur daß es dabei wirklich um Leben und Tod geht.

Will Boeing überleben, wird der Konzern wohl zu seinen Tugenden zurückkehren müssen. Denn auch Strafzölle, mit denen US-Präsident Donald Trump einheimische Schlüsselindustrien abschirmt, werden den Flugzeugbauer nicht ewig vor der europäischen Konkurrenz schützen. Die derzeitige A320-Fertigung läft am Limit, sie läßt sich auch nicht kurzfristig ausweiten, aber das Werk in Alabama (JF 4/20) ließe sich perspektivisch ausweiten – und gegen einen Airbus „made in USA“ dürften weder Trump noch seine demokratischen Herausforderer etwas haben. Und dieser Kampfansage im heimischen Vorgarten sollte Boeing etwas Besseres als fliegenden Pfusch entgegensetzen.