© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Der bezweifelte Widerstandsroman
Innere Emigration, JF-Serie Teil V: Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“
Günter Scholdt

Vor 80 rund Jahren erschien ein Text, den man mit Fug und Recht zu den bleibenden Erzählwerken des 20. Jahrhunderts rechnen darf. Er präsentiert sich als Allegorie gesellschaftlichen Verfalls, gezeichnet mit den Stilmitteln des Magischen Realismus, als Trostbuch für Tapfere und antitotalitärer Schlüssel- beziehungsweise Widerstandsroman zugleich. Das Geschehen vollzieht sich in einer typologisch skizzierten Landschaft und überzeitlichen Chronologie, in der überindividuelle Charaktere agieren.

Im Zentrum steht die zivilisatorisch hochstehende, am Seeufer gelegene große Marina. Weitere Schauplätze sind die Weideflächen der Campagna eines befreundeten halbnomadischen Hirtenvolks und die bewaldeten Jagdgründe des dämonischen Oberförsters samt seinen bewaffneten Spießgesellen und „Mauretaniern“. Sie übernehmen schließlich die Macht in der Marina, wobei deren Eroberung die Zerstörung traditioneller Werte vorausgeht.

Zur Handlung: Der Ich-Erzähler und sein Bruder Otho verabschieden sich nach verlustreichen Kämpfen gegen die freiheitsliebenden Bewohner der „Alta Plana“ von einem kraftstrotzenden Kriegerleben. Nun bewohnen sie die Rautenklause auf den Marmorklippen und widmen sich der Botanik und der ästhetisch akzentuierten Kontemplation eines friedlichen Lebens. Doch werden auch sie am Ende in den Bürgerkrieg verstrickt und finden, nachdem die Marina erlag, in Alta Plana Asyl. Zuvor hatten sie sich an einem als aussichtslos eingeschätzten Aufstandsversuch des Fürsten Sunmyra nicht beteiligt, der die alte Ordnung wiederherstellen wollte. Doch bergen sie nach seinem Opfertod sein Haupt, um daraus eine neue religiöse Tradition zu stiften.

Jünger appelliert an die innere Wehrhaftigkeit

Zeitgenossen im In- und Ausland würdigten den Roman, der nach Jüngers Tagebuchnotizen just „zum Termin“ des Kriegsausbruchs beendet war, als subversive Demonstration. Man wunderte sich, daß ein so konfrontatives Bekenntnis in NS-Deutschland hatte publiziert werden können. Gleichzeitig provozierte es Exilanten (wie die Familie Mann) und politische Gegner Jüngers aus Weimarer Tagen, daß ausgerechnet ein früherer Bellizist und Nationalist eine so mutige Tat gewagt haben sollte. Und nach Kriegsende begann man, am Text herumzukritteln. Zugute kam ihnen ein unscharf gedeutetes Interview Jüngers. Der nämlich hatte, angewidert von der nach 1945 ausufernden Beanspruchung von Widerstandsmeriten, eher den überzeitlichen sowie Kunstcharakter seines Werkes betont. Daß solche Qualitäten eindringliche zeitgenössische Botschaften nicht ausschlossen, übersah man nun allzu gern. In der Folge tat eine vom ’68er-Geist beflügelte Mehrheit der Germanistik etliches, um nicht ausgerechnet diesen „Rechten“ von ihrer spezifischen „Vergangenheitsbewältigung“ ausnehmen zu müssen. 

Dabei mußte man blind oder voreingenommen sein, um die zeitgenössische Brisanz zu übersehen. Schließlich lesen sich ganze Passagen als nur spärlich verhüllte Gegenwartskritik an einer Schreckensherrschaft. Zudem bot der Roman eine dem propagierten Geschichtsoptimismus des Regimes diametral zuwiderlaufende Lageanalyse als Untergangsprophetie. Er verband dies mit einer Ursachenanalyse des Verfalls und einem verschlüsselten Widerruf bisheriger Daseinsziele der Brüder Jünger. Statt Kriegertum und (nationalrevolutionärer) Militanz setzte der Text auf gewaltfreie Leitwerte wie Freiheit, Geist und Wort.

Zudem entfacht die Handlung um die KZ-artige Schinderstätte Köppels-Bleek mit dem geschändeten Haupt des toten Sunmyra den ideellen Glutkern eines Bekenntnisses zum Widerstand. Jünger appelliert dabei an die innere Wehrhaftigkeit seiner Landsleute und spendet Trost, selbst in aussichtsloser Lage. Wie in Stefan Andres’ „El Greco“ oder bei anderen Inneren Emigranten geht es ihm um das, was Werner Bergengruen im Roman „Am Himmel wie auf Erden“ mit dem Motto „Fürchtet euch nicht!“ auf eine Kurzformel gebracht hat:

„Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir in die Augen schießen – doch jene Tränen, in welchen mit der Trauer uns herrlich die Begeisterung ergreift. Auf dieser bleichen Maske, von der die abgeschundene Haut in Fetzen herunterhing, (…) spielte der Schatten eines Lächelns von höchster Süße und Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem hohen Menschen an diesem Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen war (…). Da faßte mich ein Schauer im Innersten, denn ich begriff, daß dieser seiner frühen Ahnen und Bezwinger von Ungeheuern würdig war; er hatte den Drachen Furcht in seiner Brust erlegt. Da wurde mir, woran ich oft gezweifelt hatte, gewiß: es gab noch Edle unter uns, in deren Herzen die Kenntnis der großen Ordnung lebte und sich bestätigte. Und wie das hohe Beispiel uns zur Gefolgschaft führt, so schwur ich vor diesem Haupt mir zu, in aller Zukunft lieber mit den Freien einsam zu fallen, als mit den Knechten im Triumph zu gehn.“

Eine oppositionelle Grundhaltung mußte also von Jünger-Jüngern nicht, wie man allzuoft hörte, künstlich hineingelesen werden. Sie war durchgängig gegeben, wurde von NS-Instanzen auch registriert; doch wollte man daraus letztlich kein Politikum machen. Die zeitgenössische Rezeption belegt jedenfalls, daß man die Stoßrichtung verstanden hatte. Und wie heikel die Materie für deutsche Rezensenten war, zeigt exemplarisch Peter Suhrkamps Ausweichen. Denn statt einer Buchbesprechung mit zwangsläufigen Aussagen zum Inhalt verfaßte er unter bloßem Bezug zum Buchtitel einen allgemeinen Essay über Verhalten in Gefahr.

Jede Zeile ist existentiell beglaubigt

Inzwischen hat auch die etablierte Germanistik ihren Frieden mit Jünger gemacht. Der Autor gilt als Klassiker und Marbachs Stolz. Es grenzt heute auch keine Nachwuchsphilologen mehr aus, wenn sie sich als Jüngers Bewunderer outen. Erkenntnisgefahr droht eher durch Versuche, den ideologischen Sündenfall des Fachs unter den Teppich zu kehren oder den Text durch Einbettung in gängige weltliterarische Bezüge oder unspezifische Entstehungsbedingungen zu verharmlosen (vgl. den Tagungsbericht von Simon Strauß in der FAZ vom 12. April 2017).

Deshalb sei nochmals betont, was dem Buch seine außerordentliche Bedeutung verleiht, jenseits von allen jüngst herbeigetragenen (teils relativierenden) erzähltechnischen, werkgenetischen, motiv- oder verlagsgeschichtlichen Details. Denn dieses Neue gewinnt seinen Stellenwert erst aus der hochbrisanten Konfrontation des Romans mit seiner Zeit und dem herrschenden Regime. Mut ist vielleicht keine ästhetische Kategorie. Aber er gibt dem Buch seine unverwechselbare Aura und Ernsthaftigkeit. Jede Zeile ist schließlich im wahrsten Sinne existentiell beglaubigt.

Und dieser zentrale Deutungsschwerpunkt darf durch keine noch so berechtigte Differenzierung, Einschränkung oder Erweiterung von Perspektiven verschoben werden. Denn vornehmlich der Charakter des Werks als Widerstandsroman konstituiert seinen epochalen Rang innerhalb der deutschsprachigen Literatur: jene in jenen Tagen fast einzigartige politische Provokation, die auch heute fasziniert und zu weiterer Beschäftigung anregt. Schließlich spielte der Autor mit diesem Text, wenn nicht um seinen Kopf, so doch zumindest um seine Schriftsteller-Existenz. Rechnete er doch stets mit einem Verbot und weiteren Kontrollen durch das Regime. 

Bei aller Bedrohung zielte er als Autor jedoch zugleich auf die Verbindung von Schönheit und Gefahr, wobei „Schönheit“ ebenso für ein nach Wahrheit strebendes, erfülltes Dasein steht. „Die Farben der Blumen am tödlichen Grat dürfen dem Auge nicht verbleichen, und sei es eine Handbreit neben dem Abgrunde“, heißt es 1942 im Tagebuch. „Das ist die Lage, die ich in den ‘Klippen’ schilderte.“

Jedes Wort dieses Buchs erscheint daher im doppelten Wortsinn wie auf Marmorklippen geschrieben, deren Glätte das Risiko erhöht, auch stilistisch-pathetisch abzustürzen. Jeder Satz wird wichtig, sei er Opposition verhüllend oder offen-konfrontativ formuliert. Das macht die einzigartige Lektüre aus, seine Haltung als heroische Geste, die niemals vergessen werden darf, wenn man den Text interpretiert und sich nicht dem bequemen Moralismus heutiger Literatur-wissenschaftler anschließt. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.

Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. Roman. Mit Materialien zu Entstehung, Hintergründen und Debatte. Klett-Cotta, Stuttgart 2017, gebunden, 396 Seiten, 28 Euro