© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Der Westen hat zu viel preisgegeben
Aus Sorge um das Abendland: Robert Kardinal Sarahs Buch „Herr, bleibe bei uns“
Michael K. Hageböck

Robert Kardinal Sarah ist die Stimme von Papst Benedikt XVI., seit dieser vor fast sieben Jahren sein Amt niederlegte. In drei Interview-Büchern mit dem französischen Journalisten Nicolas Diat bezieht der afrikanische Würdenträger Stellung gegen eine Verweltlichung der Kirche, fordert zur Umkehr auf („Gott oder nichts“, 2015), zum Gebet („Die Kraft der Stille“, 2017) und mahnt das Abendland, seiner Sendung treu zu bleiben („Herr, bleibe bei uns“, 2019).

Aktuell sind der deutsche Papst und sein schwarzer Freund in die Schlagzeilen geraten, weil sie zusammen gegen die liberale Kirchenpolitik von Papst Franziskus aufstehen. Am 25. November 2019 erlaubte der Emeritus Sarah die  Veröffentlichung eines Aufsatzes über das Priestertum in dessen neuem Buch unter dem Titel „Des profondeurs de nos cœurs“ (Aus den Tiefen unserer Herzen), das Ende Februar auch auf deutsch erscheinen soll. Von „Benedikt-Gate“ und „Vatikans-Posse“ schreibt der Spiegel, von einem Bollwerk wider den Zeitgeist sprechen katholische Medien. Der seit einem halben Jahrhundert schwelende Streit zwischen Progressiven und Konservativen in der römischen Kirche hat die oberste Etage der Kirchenleitung erreicht. Bereits bei der Wahl von Franziskus befürchteten traditionelle Katholiken nichts Gutes. 

Der Kardinal dankt für die Kolonisation

Bei allem Respekt gegenüber dem amtierenden Papst gilt der aus Guinea stammende Robert Sarah als einer seiner schärfsten Kritiker. Die aktuelle Debatte dreht sich um den Zölibat, aber die Krise geht tiefer. In dem jüngst auf deutsch erschienenen Werk „Herr, bleibe bei uns“ beschäftigt sich der Kurienkardinal mit dem geistlichen Zerfall des Klerus, mit der Erniedrigung des Menschen, mit Fehlentwicklungen in der westlichen Gesellschaft sowie der Wiederentdeckung der christlichen Tugenden. Für politisch interessierte Leser ist besonders der dritte Teil von Bedeutung, welcher neun von 18 Kapiteln umfaßt und damit das Herzstück der Abhandlung ausmacht. Äußerst kritisch setzt sich der Kardinal mit der Migration auseinander, dankt für die Kolonisation seines Kontinents, verurteilt die heutigen Eliten, lobt die Visegrád-Staaten. 

„Der Selbstmord des Westens ist dramatisch. Er hat zu viel preisgegeben: Er hat keine Kraft mehr, keine Kinder, keine Moral, keine Hoffnung. Das führt die gesamte Menschheit in eine Sackgasse.“ Die durch Europa entstandenen Probleme werden laut dem streitbaren Geistlichen zur Schicksalsfrage der ganzen Welt: „Wir wissen, daß in Europa bald ein demographisches, kulturelles und religiöses Ungleichgewicht von seltener Gefährlichkeit herrschen wird. Europa ist unfruchtbar, aufgrund seiner unzureichenden Geburtenrate erneuert es sich nicht. Sein Haus füllt sich mit Fremden … Offenbar freuen sich die europäischen Technokraten über die Migrationswelle und befördern sie. Sie denken nur ökonomisch. Sie brauchen billige Arbeitskräfte. Sie erkennen jedem Volk seine Identität und Kultur ab.“ Aphorismenhaft mahnt der Afrikaner: „Das Multikulti-Unternehmen Europa nutzt ein falsch verstandenes Ideal der Nächstenliebe aus. Nächstenliebe ist nicht Selbstnegation.“

Der moderne Europäer habe ein völlig falsches Afrika-Bild. Tatsächlich sei der schwarze Kontinent dem christlichen Abendland von ehedem zu Dank verpflichtet, die sozialliberale Elite des Westens von heute treibe jedoch den Untergang des zweitgrößten Erdteils voran: „Die kulturellen, moralischen und religiösen Werte, welche die Franzosen uns brachten, waren für uns eine große Bereicherung. Die Kolonisatoren brachten viele lebendige, durch das Christentum geadelte Traditionen ihrer Vorfahren mit. Ihre Auffassung von der Würde des Menschen, seinen Rechten und Werten waren etwas absolut Neues. Frankreich hat mich eine hervorragende Sprache gelehrt. Seine Missionare brachten mir den wahren Gott. Ich bekenne mich gerne dazu, Kind einer konstruktiven Kolonisation zu sein. Doch heute zieht der Westen mit falschen und gefährlichen Wertvorstellungen nach Afrika. Ich kann es nicht hinnehmen, daß ein Gift verteilt wird, welches den traditionellen afrikanischen Menschen zu vernichten droht.“

Nach Kardinal Sarah reißt der Westen sich und die Welt in den Abgrund. „Ich glaube, daß das Abendland im Sterben liegt. Ein Selbstzerstörungsprozeß ist immer umkehrbar. Doch die Zeit drängt. Seit einigen Jahren geht es immer rasanter bergab.“ Was über Jahrtausende gewachsen ist, so der römische Würdenträger, sei der Westen nun im Begriff auszulöschen: „Über die Wurzel wird Nahrung aufgenommen, von ihr geht das Leben aus. (…) Aber der moderne Mensch hat Angst, seine Wurzeln könnten zur Fessel werden. Also leugnet er sie lieber. Ethnien, Religionen und Kulturen haben ihre alten Geschichten, aus denen sie Kraft schöpfen.“

Der Osten beginnt sich wieder auf Traditionen

Der weiße Mann negiere seine Herkunft, seine Familie, seine Zivilisation, ja sogar sein Geschlecht. „Die gegenwärtige Revolution hat einen Namen: Optimierung des Menschengeschlechts oder Transhumanismus. Ihre Möglichkeiten rekrutieren sich aus Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Neurowissenschaften (NBIC). Ziel ist es, die menschlichen Grenzen zu überschreiten und einen Übermenschen zu schaffen. Dieses theoretische Vorhaben ist gerade dabei, Wirklichkeit zu werden. Ablehnung der eigenen Person und Haß gegen die eigene Natur – hier ist der Endpunkt in der Entwicklung des modernen Menschen erreicht. Der Homo sapiens verabscheut sich so sehr, daß er sich neu erfinden möchte. Dabei läuft er große Gefahr, sich unwiderruflich zu verunstalten.“

Der heutige Mensch möchte sich nicht mehr anderen verdanken, sondern Schöpfer seiner selbst sein. Deswegen wolle er die Familie, die Heimat, die Geschichte, das Volk und den Glauben auslöschen. Was früher christliches Abendland war, wurde zu einem Verwaltungsapparat namens EU umfunktioniert, der Gott nicht mehr kennt: „Mit allen Mitteln versucht die Mediokratie, die letzten Reste des Christentums zu zerstückeln. Das Mediensystem wacht mit Argusaugen über die Einförmigkeit des Denkens, es zieht von einer Schlacht in die nächste, um den Menschen zu transformieren.“

Während der Kardinal den Niedergang des Westens beklagt, sieht er, wie der vom Kommunismus befreite Osten sich wieder auf seine Traditionen besinnt: „Der Westen scheint sich darüber zu freuen, daß Kirchen in Turnhallen umfunktioniert werden, daß romanische Kapellen zerfallen, daß seinem geistlichen Erbe eine völlige Entsakralisierung droht. Rußland hingegen zahlt Unmengen an Geld, um die Schätze der Orthodoxen Kirche zu restaurieren.“

Gebet für die Bekehrung Deutschlands

Robert Kardinal Sarah liebt das Abendland, nicht zuletzt aufgrund seiner Freundschaft zu Benedikt XVI. Zu dem zweiten Interviewband schrieb der emeritierte Papst das Vorwort, zum aktuellen Buch verfaßte der Afrikaner ein Gebet, in dem es um die Bekehrung Deutschlands geht. Der Geistliche zeigt Zusammenbrüche auf, will aber auch Mut machen. Der Titel des Buches „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden“ ist jener Stelle des Lukas-Evangeliums entnommen, wo der Auferstandene die niedergeschlagenen Emmaus-Jünger tröstet, welche befürchten, daß mit der Kreuzigung alles vorbei ist.

Diese Bibelstelle nutzt Sarah als Metapher für den Zustand der Kirche und der westlichen Welt. Eine Kirche ohne Glaube, ein Kontinent ohne Hoffnung. Robert Sarah fordert eine Wiedergeburt des christlichen Abendlandes, eine Rückbesinnung jenes Erdteils, über dem einst die Sonne des Glaubens aufging, der seine Kultur prägte, Universitäten hervorbrachte und über dem nun die Sonne des gesunden Menschenverstandes unterzugehen scheint. In scharfen Worten prangert der Geistliche an, daß der Mensch sich selbst in den Mittelpunkt rückte, während er Gott ins Abseits schob. In einer Zeit der Auflösung ruft Sarah zu Besinnung und Umkehr auf. Europa müsse wieder zu sich selbst finden oder die Nacht werde über dem Abendland hereinbrechen, die Finsternis der Entmenschlichung und der Gottesferne.

„Herr, bleibe bei uns “ beleuchtet verschiedene Themen, die in einfacher, aber präziser Sprache behandelt werden. Es ist ein Werk, welches gelesen, bedacht, diskutiert werden sollte und hoffentlich zu einer Reform der durch Kirchensteuergelder korrumpierten Kirche in Deutschland beiträgt.

Robert Kardinal Sarah, Nicolas Diat: Herr, bleibe bei uns! fe-Medien, Kisslegg 2019, gebunden, 440 Seiten, 19,80 Euro