© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Kurzer Frühling der Medienvielfalt
Kein langer Bestand: Im Frühjahr 1990 gründeten sich mehrere neue Zeitungen in der Noch-DDR
Paul Leonhard

Im Spätherbst 1989 sprach der heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, seinerzeit Sprecher des Neuen Forums, in den Redaktionen der Sächsischen Neuesten Nachrichten und der Union vor. Er verlangte nicht nur, eine von ihm vorgelegte Resolution eins zu eins abzudrucken, sondern daß auch künftig den Gruppierungen der Bürgerbewegung eine Zeitungsseite zur Verfügung gestellt werde, in der sie unredigiert ihre Verlautbarungen veröffentlichen könnten. Kurz vor Vaatz hatte bereits ein Vertreter der SDP, des SPD-Vorgängers, ähnliche Forderungen kundgetan.

Westdeutsche Verleger übernahmen Blätter

Die Redakteure dachten vor 30 Jahren indes gar nicht daran, diesen Forderungen zu folgen. Sie hatten gerade Morgenluft gewittert und wollten sich von allen jahrzehntelangen Vorgaben durch ihre jeweiligen Herausgeber, die Parteien und Massenorganisationen der DDR, freimachen. Endlich sollte es freie Medien geben, endlich wollten sie darüber schreiben, was sie tagtäglich beobachteten. Nie wieder sollte sie der Vorwurf Lügenpresse treffen.

Es war eine Zeit des Enthusiasmus und des Aufbruchs. Die von der CDU herausgegebene Dresdner Union, in kulturellen und umweltpolitischen Themen schon immer aufmüpfiger als die anderen Tageszeitungen der Bezirkshauptstadt, konnte binnen weniger Wochen ihre Auflage auf bis zu 100.000 Stück steigern. Daß die diskreditierten SED-Bezirkszeitungen trotz ihrer riesigen Auflagen (Freie Presse in Karl-Marx-Stadt 600.000) in einer demokratischen DDR keine Chance haben würden, schien ausgemachte Sache. Überdies rechnete man noch mit einem Verbot der SED. Wer mit deren Parteibuch einst die Bevölkerung beogen hatte, sollte nicht mehr als Journalist tätig sein dürfen. Überleben würden die kleinen Zeitungen, in deren Redaktionen auch systemkritische Redakteure ihre Nische gefunden hatten.

Das Frühjahr 1990 war auch die Hochzeit der Zeitungsneugründungen. Zu den existierenden 39 Tageszeitungen kamen mehr als 40 neue Titel hinzu, meistens initiiert von Mitgliedern der Bürgerbewegung. Sie sollten wie die von der Dresdner Bürgerrechts­initiative „Gruppe der 20“ herausgegebene Wochenzeitung Sachsenspiegel eine Gegenstimme zu den unter dem SED-Regime etablierten Presseorganen bilden und den Übergang zu demokratischen Verhältnissen begleiten. Ulrich Frank-Planitz, Chef der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, wollte mit dieser „Unabhängigen Wochenzeitung für Politik, Kultur und Wirtschaft“ für Mitteldeutschland, die es immerhin auf 57 Ausgaben brachte, die „Wiederhestellung der 1952 liquidierten Länder und den Prozeß der deutschen Wiedervereinigung“ publizistisch begleiten. 

Aber der ungewohnt hohe journalistische Anspruch überforderte die potentiellen Leser. Diese waren vollends damit beschäftigt, selbst mit dem atemberaubenden Tempo der Veränderungen mitzukommen. Selbst die alternative Leipziger Andere Zeitung (DAZ), die es ohne westdeutschen Partnerverlag vor allem mit Enthüllungen über die Stasi, Umwelt- und Rathausskandalen, Berichten über Subkultur und Wendeverlierer aus der Perspektive des kleinen Mannes auf eine Auflage von immerhin 40.000 Exemplaren gebracht hatte, mußte nach einem Jahr aufgeben. Auch die über staatlich festgelegte Papierkontingente klein gehaltenen Tageszeitungen von LDPD, NDPD, CDU und Bauernpartei hatten nach dem Wegfall der Parteisubventionen und des Postzeitungsvertriebs keine Chance gegen die SED-Bezirksblätter mit Auflagen von bis zu jeweils 600.000 Exemplaren.

Daß statt einer breiten Medienvielfalt, die eine facettenreiche Meinungsbildung ermöglicht hätte, letztlich in den neuen Ländern ein bisher in Deutschland unbekannter Konzentrationsschub in der Medienwirtschaft stattfand, ist auch Schuld der Bundesregierung. Diese hatte westdeutschen Großverlagen zugesagt, daß diese über die Treuhand die SED-Zeitungen in ihrer bisherigen Struktur mit Lokalredaktionen in allen Kreisstädten einschließlich der Druckereien erwerben dürften. Kartellrechtliche Bedenken wurden vom Tisch gefegt.

So ging die Freie Presse auf persönliche Vermittlung von Bundeskanzler Helmut Kohl an die Medien Union/Rheinpfalz Ludwigshafen, die Mitteldeutsche Zeitung Halle (Auflage damals 530.000 Exemplare) an DuMont/Schauberg Köln, die Berliner Zeitung (350.000) an Gruner+Jahr/Maxwell. Den neuen Besitzern ging es aber weniger um die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit in den neuen Ländern als um Maximalgewinne. Eine Rechnung, die bis zum Siegeszug des Onlinejournalismus auch aufging.

Mit dem Verkauf der SED-Zeitungen endete im April 1991 der kurze Medienfrühling. Auf der Strecke blieben die Nicht-Genossen unter den Journalisten und die Meinungsvielfalt. Die SED-Bezirkszeitungen und ihre Mitarbeiter hatten sich in die soziale Marktwirtschaft, gegen die sie jahrzehntelang gehetzt hatten, gerettet. Nach ihrer Vergangenheit fragte niemand mehr.