© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

„Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht“
Energiewende und Atomausstieg zugleich, geht das? Nein, meint Manfred Haferburg, Kernenergetiker und ehemals Experte des Weltverbands der Kernkraftbetreiber. So mehren sich die Stimmen für eine Renaissance der Nuklearenergie – doch ist sie realistisch?
Moritz Schwarz

Herr Haferburg, kehrt die Atomkraft zurück?

Manfred Haferburg: Das glaube ich nicht – jedenfalls nicht nach Deutschland und nicht in absehbarer Zeit.

Die Stimmen dafür mehren sich, etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer oder VW-Chef Herbert Diess. Unter Namen wie „Nuclear Pride“ (Nuklear-Stolz) organisiert sich sogar ein Teil der Umweltbewegung für eine „Enttabuisierung der Atomkraft“.

Haferburg: Die werden nicht einmal eine Laufzeitverlängerung für die noch arbeitenden KKW erwirken. 

Aber Aussteigen aus der Atom- und aus der Kohlekraft – geht das?

Haferburg: Natürlich – wenn man die Konsequenzen ignoriert ...

Das heißt?

Haferburg: Sie wissen was „Grundlast“ ist? Die Menge Energie, die ein Stromnetz braucht, um stabil zu sein und die sich sekundengenau am Verbrauch orientieren muß. Wird zu wenig Strom eingespeist, kollabiert das Netz. Alternative Energien liefern nicht jederzeit genug Strom – sind also nicht „grundlastfähig“. Sie fragen nach den Konsequenzen, wenn uns künftig nur noch diese zur Verfügung stehen? Strom­engpässe, bis hin zum Blackout.    

Warum? Schließlich produzieren die Erneuerbaren bereits Überkapazitäten.

Haferburg: Ja, wenn Wind und Sonne ergiebig sind. Nur nützt das nichts, da es keine bezahlbare Technologie gibt, sie zu speichern.

Der Kohleausstieg ist für 2035 bis 2038 anvisiert, vielleicht gibt es die bis dahin?

Haferburg: Für diese Hoffnung gibt es keine technische Grundlage. 

Dann kaufen wir Strom im Ausland.

Haferburg: Und was, wenn dank „Dunkelflaute“ – keine Sonne, kein Wind – der Bedarf so groß ist, daß auch das nicht reicht? Andere Länder können Deutschland nicht unbegrenzt mitversorgen. Zudem ist das teuer – das Ausland will ja verdienen. Und worin liegt der Sinn, Atomstrom aufzugeben, um diesen dann im Ausland zu kaufen?

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet schlägt deshalb Gaskraftwerke vor. 

Haferburg: Gute Idee, nur soll das letzte KKW bereits 2022 vom Netz gehen und allein das Genehmigungsverfahren für ein Gaskraftwerk braucht in Deutschland Jahre, ebenso wie sein Bau. Dazu kommt, daß die nicht rentabel sind, sie also niemand bauen wird.

Warum nicht? 

Haferburg: Wegen der Energiewende: Laut Gesetz genießen Wind und Sonne Vorrang. Erst wenn die nicht genug liefern, darf Strom aus Gas genutzt werden. So kann ein Gaskraftwerk nicht mal genug verkaufen, um seine Kosten zu decken. Weshalb etwa E.ON bereits 2016 die Stillegung eines nagelneuen, 2010 gebauten Gaskraftwerks beantragt hat! 

Grünen-Chef Robert Habeck sagt, er sei sich des Problems der Versorgungssicherheit angesichts des Doppelausstiegs bewußt. 

Haferburg: Na, dann brauchen wir uns ja keine Sorgen mehr zu machen ...!

Da die Grünen regieren wollen, werden sie sich doch wohl um eine Lösung bemühen.

Haferburg: Ihre Ausstiegspolitik kollidiert mit den Naturgesetzen – und die können auch die Grünen nicht ändern.  

Ist wirklich denkbar, daß sich die Regierung, die ja auch wiedergewählt werden will, in eine solche Lage bringt? 

Haferburg: Wieso „denkbar“? Mit Ener-giewende und Kohleausstieg hat sie sich längst ins Dilemma manövriert: Revidiert sie die Energiewende, wird dem Volk klar, daß es jahrelang hinter die Fichte geführt und Milliarden verschwendet worden sind. Macht sie so weiter, gerät sie mit der Physik in Clinch.

Also bleibt die Rückkehr zur Atomkraft?

Haferburg: Technisch ja – politisch, wie gesagt, nein, weil zu viel Widerstand.

Wenn in puncto Versorgungssicherheit eintrifft, was Sie vorhersagen, wird die Stimmung dann nicht kippen? Gleich, ob man das will oder nicht; schlicht, weil der Atomausstieg Otto Normalverbraucher egal ist, wenn es um seine soziale Sicherheit geht. 

Haferburg: Mag sein, ich habe keine Glaskugel. Aber ich vermute, daß es eher zu einer Art Energiesozialismus kommt.

„Energiesozialismus“? 

Haferburg: Wenn nicht genug für alle da ist, muß so zugeteilt werden, daß wenigstens alle gleich wenig haben. 

Sie scherzen? 

Haferburg: Ich fürchte nicht.

Das ist doch absurd. Eine solche Politik würde vorher abgewählt werden. 

Haferburg: Ich glaube, daß sogar nichtmal ein Blackout das bewirken würde.

Warum das? 

Haferburg: Einmal wegen der Schafsgeduld der Leute bei dem Thema. Nehmen Sie die steigenden Strompreise – längst sind wir Europameister! Und mit der geplanten CO2-Bepreisung, die die Regierung klugerweise erst nach der Bundestagswahl 2021 einführen will, bleibt uns der Meistertitel mit Sicherheit erhalten.

Dem steht allerdings eine Vergünstigung durch Senkung der EEG-Umlage entgegen. 

Haferburg: Die schneller verdunsten wird, als Sie gucken können – lächerlich. 

Doch wirkt Ihr „die Leute lassen alles mit sich machen“ wie Untergangspessimismus.   

Haferburg: Bedenken Sie, daß bei einem Blackout wohl ein Sündenbock präsentiert würde: Ein Techniker findet sich immer, der einen falschen Hebel umgelegt hat. Anstatt einzuräumen, daß der wahre Grund die hasardeurhafte Energiepolitik ist. Außerdem sind die Bürger seit zwanzig Jahren einem Trommelfeuer an Propaganda ausgesetzt, das in Form von Un- und Halbwahrheiten, Nebelbomben und Schönrechnerei auf sie niedergeht und die Gehirne verkleistert. 

Ist das nicht polemisch? 

Haferburg: Finden Sie? Nehmen Sie das populäre Motto „Wind und Sonne schicken keine Rechnung“, das – nicht zu glauben – immer noch zieht. Natürlich schicken die keine Rechnung, aber tun das Kohle und Atom? Die Rechnung schickt der Produzent – und ist das bei den Erneuerbaren etwa anders? Ob Kohle und Atom oder Wind oder Sonne – jemand muß Kraftwerke bauen und betreiben! Das versteht jedes Kind. Dennoch finden zahllose erwachsene Deutsche dieses absurde Motto einleuchtend. Und das, obwohl „Wind und Sonne“ ihnen sogar stetig steigende Rechnungen schicken. Wenn das nicht Gehirnverkleisterung ist, was bitte dann?

Dann mal angenommen, Sie irren: Wie sähe die Wiedereinführung technisch aus? 

Haferburg: Ich muß Sie enttäuschen, wir können die Kernenergie nicht einfach so wiedereinführen, auch technisch nicht. Und dafür müssen wir nicht in die Zukunft zu sehen, schon heute ist das so.

Warum nicht? 

Haferburg: Weil uns längst die nötigen Voraussetzungen fehlen: Know-how, Personal und die technischen Anlagen, um ein KKW zu bauen.

Aber es gibt doch laufende Anlagen, also beherrschen wir die Technologie noch! 

Haferburg: Das ist, wie wenn Sie ein Auto haben und es das Autohaus noch gibt, nicht aber mehr den Hersteller.

Was heißt das konkret? 

Haferburg: Das Wissen, wie man ein marktfähiges Modell entwirft, durchplant und baut ist verloren. Was den Leuten nicht klar ist, ist daß wir längst – schon im Jahr 2000 mit dem Beschluß von Rot-Grün – ausgestiegen sind. Seitdem haben wir unsere Kompetenzen, Produktionsstätten und die Nachwuchsgewinnung abgebaut. Übrigens will die nötigen Fächer eh kaum noch jemand studieren. Auch wegen des Images. Als Student der Kernenergetik war ich bei den Damen sehr begehrt. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Sie so ein Fach bei einer Studentenparty heute erwähnen.

Könnten wir die Infrastruktur neu schaffen?

Haferburg: Ja, aber das dauert. Bis wir wieder den Anschluß gefunden hätten, würde es circa dreißig Jahre dauern. Möglich wäre, was wir verloren haben, im Ausland einzukaufen. Doch auch dann würde ein Wiedereinstieg sicher zehn Jahre brauchen. Bis Kraftwerke in ausreichender Zahl geplant, genehmigt und gebaut sind, dauert es.

Doch würden damit auch die ungelösten Probleme zurückkehren, Stichwort GAU und Endlagerung. Ist das zu verantworten?

Haferburg: Dazu habe ich sicher eine andere Meinung als Sie, wenn Sie schon so einschlägig fragen. Allerdings sagte ich ja, wegen eben dieser Haltung kommt das politisch sowieso nicht. 

Kämen neue Techniken zum Einsatz? 

Haferburg: Auch hier gilt, ich habe keine Glaskugel. 

Was ist mit dem Dual-Fluid-Reaktor?

Haferburg: Wann der ausgereift ist, kann Ihnen niemand sagen. Ich erinnere an die Kernfusion, von der es ja schon seit Jahrzehnten heißt, sie sei in absehbarer Zeit einsatzbereit. Ich habe dazu die „Haferburgsche Kernfusionskonstante“ kreiert: Egal zu welchem Zeitpunkt Sie die Frage stellen, die Antwort lautet immer: In fünfzig Jahren. 

Sie waren in Paris bei der World Association of Nuclear Operators für Sicherheitsfragen in Kernkraftwerken weltweit zuständig und sagen, Deutschland könnten Sie keine Sicherheitsempfehlung für Atomkraft geben. Warum nicht?

Haferburg: Das ist natürlich etwas zugespitzt, aber im Grunde stimmt es. Denn Kernenergie kann man nur Staaten empfehlen, die stabil sind – ökonomisch, sozial und politisch. Ist Deutschland politisch stabil? Nicht so ganz.

Inwiefern nicht? 

Haferburg: Der Laufzeitverlängerung folgt die Zwangsabschaltung – je nach politischem Gusto. Technologien sind jedoch langfristige Angelegenheiten, die große Investitionen erfordern. Wenn man sie alle paar Jahre wechselt, kann das einen Standort ruinieren. Milliarden verschwinden, ohne Früchte zu tragen, Industrien wandern ab. Beispiel im Kleinen: Wer vor sechs Jahren einen Diesel gekauft hat, weil er der Politik glaubte, der sei ökologisch zukunftssicher, steht heute vor einer Fehlinvestition. Wenn Sie so etwas mit Industrien machen, vertreiben Sie die zuverlässig.

In Ihrem Buch „Wohn-Haft“ schildern Sie Ihren ersten „Kohleausstieg“ – nämlich im Dezember 1978 als Schichtchef des Atomkraftwerks Greifswald mit seiner 156 Mann starken Belegschaft. 

Haferburg: Ja, das war, gemessen an der zwei Kilometer langen Turbinenhalle, damals sogar das größte KKW der Welt. Es gab einen riesigen Schneesturm und die Kohlekraftwerke fielen aus. Das Resultat war ein mehrtägiger Blackout in etwa einem Drittel der DDR, mit offiziell neun Toten. Einen Unterschied macht es, ob ein solcher Stromausfall eher das Land oder Städte trifft. Denn auf dem Land ist die Sozialstruktur etwas robuster. Vor allem aber zählt, ob es ein lokaler oder totaler Ausfall ist. Ob es also außerhalb noch eine funktionierende Ordnung gibt, die weiterhin respektiert wird und Hilfe schickt. 1978 war das der Fall und der betroffene Norden der DDR war nicht nur stark ländlich geprägt, sondern überhaupt war die Gesellschaft damals viel weniger von Strom abhängig. Viel weniger Geräte liefen elektrisch, geheizt wurde oft noch mit Kohleöfen etc. Heute würde ein totaler Stromausfall sicher eine ganze Woche dauern und Tausende Tote kosten, vor allem unter den Schwächsten der Schwachen, nämlich jenen, die hilfsbedürftig sind. Zudem würden Plünderungen einsetzen und marodierende Banden umherziehen, vor denen niemand sicher wäre. Aber man muß gar nicht die Blackout-Gefahr bemühen, um die Dramatik der Entwicklung aufzuzeigen. Dafür reichen die drohenden ökonomischen Folgen: Immer mehr Energiekosten bei gleichzeitig immer weniger Versorgungssicherheit führen zu immer mehr abwandernden Unternehmen. Jeder weiß, was das heißt. 

Warum tut die Politik das? 

Haferburg: Aus ideologischen Gründen. Es ist oft so, daß Politik dysfunktional wird, wenn die Medien ihrer Kontrollfunktion nicht mehr nachkommen – was in Sachen Doppelausstieg der Fall ist, der von der Mehrzahl der Journalisten nicht aus sachlichen, sondern moralischen Gründen gewünscht wird. Wenn aber Wunschdenken auf Wirklichkeit trifft, geht die Moral als Sieger hervor und der Realismus verloren. Das ist der Grund, warum Deutschland heute mit vereinten Kräften ins Land der Illusionen einmarschiert. Nur, Physik bleibt Physik – und wenn das eines Tages offenbar wird, folgt ein böses Erwachen.               






Manfred Haferburg, war 16 Jahre lang für die World Association of Nuclear Operators tätig und arbeitete dabei in über hundert Kernkraftwerken weltweit. Zuvor war er Oberschichtleiter im KKW Greifswald. Geboren 1948 in Nebra in Sachsen-Anhalt, studierte er Kernenergetik an der TU Dresden und erwarb nach der Wende einen Abschluß in Organisationspsychologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT). In seinem 2013 erschienenen Roman „Wohn-Haft“, für den Wolf Biermann das Vorwort schrieb, schildert er Widerstand und Zersetzung eines leitenden KKW-Technikers in der DDR, dem im Stasigefängnis Hohenschönhausen die Friedliche Revolution 1989 das Leben rettet.         

Foto: Kühltürme eines AKW: „Diese Politik widerspricht den Naturgesetzen: Denn alternative Energien sind nicht grundlastfähig ... (daher) kann aus Atom und Kohle nur aussteigen, wer die Konsequenzen ignoriert. Abwanderung der Industrie, Stromengpässe bis hin zum Blackout mit wohl Tausenden Toten ... Physik bleibt eben Physik! So wird es noch ein böses Erwachen geben“   

weitere Interview-Partner der JF