© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Die Musik spielt woanders
Forschung und Entwicklung von Kernkraft: Viele Staaten setzen auf Kernenergie. Ältere Ansätze werden weiterentwickelt, neue sind bereits erfunden. Nur Deutschland stellt sich ins Abseits.
Marc Schmidt

Weltweit sind derzeit 450 Kernkraftwerke unterschiedlichster Bauart in Betrieb – in 31 Ländern, mit einer Nettoleistung von etwa 397 Gigawatt (397.000 Megawatt). 55 weitere befinden sich im Bau, davon elf allein im kommunistischen China. 120 Kernkraftwerksbauten sind über den Globus verteilt in verschiedenen Planungsstadien, was den aktuellen Anteil der Kernenergie am weltweiten Strommix von elf Prozent in den kommenden 20 Jahren stark erhöhen wird. Innerhalb dieses Zeitfensters will Deutschland neben seinen verbliebenen sechs Kernkraftwerken auch alle Kohlekraftwerke außer Betrieb gesetzt haben.

268 der laufenden Kernkraftwerke stehen in den G7-Mitgliedsstaaten (ohne Russische Föderation mit 36 Reaktoren). Innerhalb der G7-Länder ist der Ausstieg aus der Kernenergie ein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Innerhalb der G7 verzichtet nur Italien seit 1990 auf Basis einer Volksabstimmung nach dem GAU von Tschernobyl auf Kernkraft, weshalb das Land ca. 82 Prozent seines Strombedarfs über das europäische Verbundnetz importiert und für den restlichen Strombedarf vor allem Öl und Gas verbrennt. Die italienische Importenergie stammt vor allem aus französischen Kernkraftwerken.

Frankreich erreicht mit über 70 Prozent den global gesehen höchsten Anteil von Kernenergie am Strommix und ist zugleich neben Deutschland der größte europäische Stromexporteur. Da allerdings die deutschen Exporte aus „Erneuerbaren Energien“ im Gegensatz zur französischen Kernkraft eher ungeplante Mengen sind, ist der Beitrag der 58 französischen Kernkraftwerke zur Stabilisierung des europäischen Netzes wesentlich höher.

Entsprechend sind die Franzosen auch federführend bei der laufenden Weiterentwicklung des europäischen Druckwasserreaktors vom Typ EPR (Evolutionary Power Reactor). Die beiden ersten Reaktoren dieses Typs werden im französischen Flamanville und im finnischen Olkiluoto errichtet. Beide Bauwerke liegen bereits etwa zehn Jahre hinter der kalkulierten Bauzeit mit einer jeweiligen Kostensteigerung von mehr als 300 Prozent. Zur Zeit ist die mehrfach verschobene, genehmigte Inbetriebnahme des formal fertiggestellten finnischen Reaktors für Anfang 2021 vorgesehen.

Zukunft aus französischen und russischen Brütern

Auch der EPR als modernes Kernkraftwerk der Generation III+ hat, wie alle zur Zeit betriebenen und geplanten Kernkraftwerke klassischer Bauart, einen relativ schlechten Nutzungsgrad des Urans. Das in diesen Reaktoren verwendete angereicherte Uran zerfällt im wesentlichen zu nicht mehr im Reaktor spaltbarem Uran und Plutonium. Um diesem Problem zu begegnen, wurden vor allem in Frankreich, den USA und der Sowjetunion seit den fünfziger Jahren Brüter genannte Reaktoren entwickelt, die entweder durch den Einsatz von extrem beschleunigten oder thermisch aufgeladenen Neutronen im Ergebnis neben der Energie in Form von Strom und Wärme mehr spaltbares Material (Uran, Plutonium) als ursprünglich eingesetzt liefern.

In den kommerziellen Einsatz gelangten nur vier Reaktoren der Art des Schnellen Brüters, zwei in den französischen Nuklearanlagen Marcoule sowie Creys-Malville (die SFRs Phénix und Superphénix) sowie zwei in Rußland (Belojarsk bei Jekaterinburg). Der internationale Durchbruch blieb der Technik bisher aus Kostengründen verwehrt. Und bei uns aus ideologischen, man erinnere sich an Kalkar, von der NRW-SPD ohne sachliche Gründe abgewürgt, dabei kreiste das Natrium schon im Kühlsystem.

Allerdings bilden die vier Reaktoren, von denen nur noch die beiden russischen BN-Reaktoren in Betrieb sind (BN = Reaktor na Bystrych Nejtronach, „Reaktor für schnelle Neutronen“), die Grundlage verschiedener Forschungsansätze für weiterentwickelte Kernkraftwerke der Generation IV.

Die sechs verschiedenen Typen der 4. Kernkraftwerksgeneration werden durch das „Generation IV International Forum“ (GIF) erforscht und projektiert. Mitglieder des 2001 gegründeten GIF sind die USA, Kanada, Argentinien, Australien, Brasilien, China, England, Frankreich, Japan, Rußland, die Schweiz, Südafrika, Südkorea und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Deutschland hat bei der Gründung 2001 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auf eine Teilnahme verzichtet – und ist nurmehr indirekt über Euratom vertreten. Dabei war die Bundesrepublik in den achtziger Jahren mit dem Schnellen Brüter und dem eigens entwickelten Hochtemperaturreaktor (HTR) weltweit führend in neuen Konzepten.

 Alle Mitglieder arbeiten in unterschiedlichen Arbeitsgruppen an den sechs weiterentwickelten oder neuen Kernkraftwerkstypen, die durch Experten als die vielversprechendsten Ansätze der Forschung identifiziert worden sind. Dem Zeitplan des GIF folgend sollen die Entwicklungen einsatzfähiger Prototypen spätestens 2030 abgeschlossen sein.

In den französischen wie russischen Schnellen Brütern gelang es bereits, einen Überschuß an Brennmaterial für Leichtwasserreaktoren der Generation III bei der Energiegewinnung zu erzielen. Aus dem verwendeten Natururan wurde im Ergebnis bei der Energieerzeugung mehr spaltbares Material gewonnen, als eingesetzt worden ist. Dies entspricht einer bis zu 60mal effizienteren Verwendung des Natururans gegenüber herkömmlichen KKWs der Generation II.

Neue Nukleartechniken verbessern Energieausbeute

Das System des Schnellen Brüters wird in drei Arten innerhalb des GIF entwickelt: differenziert nach dem für die Kühlung und Abschirmung verwendeten Material. Bei den Versuchen kommen Helium/Keramik, Natrium und Blei zum Einsatz. Die weiteren Reaktortechniken im GIF-Portfolio sind der Höchsttemperaturreaktor, bei dem das Uran in mit Graphit ummantelten Kügelchen zu einem pyramidenförmigen Haufen gestapelt wird, der superkritische Leichtwasserreaktor, in dem das Kühlmittel Wasser im überkritischen Zustand sowohl als gas- als auch flüssigförmig angesehen werden kann und der Flüssigsalzreaktor, bei dem neben geschmolzenen Salzen ebenfalls Graphit zum Einsatz kommt.

Allen Reaktortypen der Generation IV sind zwei Dinge gemein: Die Forschung an der Kernenergie der Zukunft, der Weiterentwicklung von Anlagen, Steuerungselektronik und Spezialbau, die Patententwicklung und die internationale Kooperation funktionieren prächtig ohne die früher weltweit technologisch führende Industrienation Deutschland. Der zweite Punkt liegt in der Basis der Systeme, die ohne Uran oder anderes spaltbares Material nicht auskommen. Die neuen Technologien verhindern eine Rohstoffknappheit, verbessern Nutzungsgrade, Energieausbeute wie Wiederverwendungsfähigkeiten für das nukleare Material und senken die Risiken. Gleichwohl bleibt ein Restrisiko der Verwendung radioaktiv strahlender Brennstoffe.

Diesen Aspekt zu vermeiden ist das Ziel der Kernfusion. An verschiedenen Konzepten für Fusionsreaktoren wird derzeit an Standorten in Frankreich, Amerika und China gearbeitet. Am bekanntesten ist hierbei das Projekt Iter, an dem neben allen EU-Staaten einschließlich Deutschland auch Rußland, Amerika, Indien, China, Japan und Südkorea mitarbeiten. In der Iter-Anlage in Cadarache, nordöstlich von Aix-en-Provence, soll analog zu den thermischen Prozessen der Sonne die Fusion der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium erreicht werden. Damit die Kerne verschmelzen und sich nicht abstoßen, werden die Isotope in einer ringförmigen Kammer, dem Tokamak, durch extreme Wärmezufuhr von 150 Millionen Grad in die Zustandsform Plasma gebracht, welches durch ein extrem starkes Magnetfeld zusammen- und in Position gehalten wird (möglich gemacht durch die Entwicklung von Hochtemperatursupraleitern). Neben den hohen Anforderungen an die Steuerung der Anlage und dem sehr hohen Energiebedarf von etwa 400 MW Leistung im Betrieb stellen die erreichten Temperaturen die Anlagenbauer vor Herausforderungen.

In einem chinesischen Versuchsreaktor auf Basis des gleichen Grundprinzips wurden für mehr als 100 Sekunden 100 Millionen Grad Celsius erreicht, was heißer ist als die errechneten Fusionstemperaturen der Sonne. Diese Wärme zu kontrollieren und ihre Abstrahlung zugleich zum notwendigen, fortgesetzten Aufheizen des Plasmas zu nutzen zeigt die Komplexität der Anlagen, deren ursprüngliche Konzeptionen auf einem Entwurf des Max-Planck-Instituts von 1990 basieren. Einmal mehr zeigt sich an diesem Beispiel, daß China die Technik realisiert, die in Deutschland aufwendig entwickelt, dann fallengelassen und fahrlässig weitergegeben worden ist. Der weiterentwickelte Transrapid, der heute durch China fährt, ist ein anderes Beispiel.

Die Führungsrolle bei internationalen Forschungsarbeiten im Energiebereich hat Deutschland nun seit vielen Jahren verloren. Die Entwicklungen beim Iter-Projekt sollen bis 2030 in einen Versuchsreaktor münden. Erweist sich einer der Ansätze zu einem Fusionsreaktor als beherrschbar, könnte ab 2050 eine weitestgehend umweltfreundlich produzierte, in der Menge theoretisch nicht limitierte Strommenge technisch zur Verfügung stehen. Zu diesem Zeitpunkt laufen weltweit voraussichtlich mehr als 700 Kernkraftwerke, während die Bundesregierung den 25. Jahrestag der Abschaltung seiner verbliebenen sechs Kernkraftwerke und das zehnjährige Jubiläum des Endes der Kohleverstromung mit veganem Buffet und Solardrohnenfeuerwerk feiert.

Die Speerspitze neuer deutscher Technologiefeindlichkeit bilden ein ums andere Mal die Grünen. Aktuell fordert deren Bundestagsfraktion ein Ende der wirtschaftlichen Unterstützung für das Iter-Projekt durch die EU, vor allem, da diese Unterstützung in den Energiebilanzen als Umweltmaßnahme bewertet wird. Auch die deutsche Forschungsbeteiligung an der Kernfusionstechnologie ist ihnen ein Dorn im Auge. Ihre Forderung nach einem entsprechenden Ausstieg begründen sie ganz ohne Ironie mit der Aussage, die Technologie stünde erst zur Verfügung, wenn es in Deutschland eine 100-Prozent-Versorgung aus „Ökostrom“ gäbe, die Kernfusion überflüssig machen würde.





Dual-Fluid-Reaktor

Der Zwei-Flüssigkeiten-Reaktor (Dual-Fluid-Reaktor, DFR) ist das Konzept eines Kernkraftwerks der Generation IV, das mit flüssigen statt festen Kernbrennstoffen betrieben wird. Erfunden von einem Team Berliner Kernphysiker um Armin Huke, besteht der Clou in der Trennung der Funktionen Brennstoffzufuhr und Wärmeabfuhr. Man erhält so zwei parallele Kreisläufe, die in ihrer jeweiligen Funktion optimiert werden können. Er erzeugt sogar aus Atommüll Unmegen von Energie: Abgebrannte Brennelemente werden zermahlen, chemisch geeignet umgewandelt und im DFR weiter abgebrannt. Auf ein Endlager kann verzichtet werden. Vom Generation-IV-Forum wird er (noch) nicht unterstützt und erhält wegen der atomfeindlichen Einstellung von Bundesregierung und Gesellschaft keine staatlichen Forschungsgelder. Als einziger der Reaktortypen der Generation IV ist er komplett neu. Die Erfinder haben ihn in mehreren Staaten patentieren lassen. (ru)