© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Er hält der Politik den Spiegel vor
Sozialdemokratie: Thilo Sarrazin wehrt sich gegen den Versuch, ihn aus der Partei auszuschließen
Thorsten Hinz

Wenn die SPD zu retten oder wenigstens rettungswillig wäre, sie hätte Thilo Sarrazin zum alleinigen Vorsitzenden gewählt und für ein Jahr mit uneingeschränkten Durchgriffsrechten ausgestattet.

Im Frühsommer vergangenen Jahres hatte sich der ehemalige Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand in der Schweizer Weltwoche, für die er regelmäßig schreibt, mit dem ihm eigenen trockenen Humor für das Amt empfohlen. Unter der Überschrift „Wenn ich Parteivorsitzender wäre“ forderte er von seiner Partei, auf allen Feldern der Politik kompetentes Personal, Wissen und Expertise vorzuhalten. Die SPD müsse „konkret vorführen, wie denn die überaus ehrgeizigen CO2-Ziele erreicht und gleichzeitig Arbeitsplätze in der Chemie, der Autoindustrie, im Maschinenbau et cetera gesichert werden können“. Und vor allem hätte sie die Masseneinwanderung zu regeln, von der die kleinen Leute – ehedem die wichtigste Zielgruppe der SPD – am meisten betroffen sind. Er, Sarrazin, wüßte, „was zu tun wäre. Nur an Jugend, Schönheit und Charisma müßte ich noch arbeiten.“

Es ist anders gekommen. Die SPD hat sich ein linksdrehendes Führungsduo gegeben, über das sich ernsthaft nur noch im Satire-Modus reden läßt. Die Twitter-Gemeinde macht es vor, indem sie Saskia Esken mit Ehrentiteln wie „Der Teufel trägt Prawda“ und „Pol Pott Schnitt“ versieht und Norbert Walter-Borjans zum „Roten Hai“ und „Steuernator 2“ ernennt. Während also in der digitalen Welt nach der realen Restsubstanz der SPD gegraben wird, ist man in der analogen Welt der Sozialdemokratie unbeirrt mit irrealen Fragen und Problemen beschäftigt. Zum Beispiel mit dem Parteiausschluß Thilo Sarrazins, der am 12. Februar seinen 75. Geburtstag feiern und auf eine rund 45jährige SPD-Mitgliedschaft zurückblicken kann.

Ende voriger Woche hatte die Landesschiedskommission der Berliner SPD bestätigt, daß Sarrazin im nunmehr dritten Anlauf aus der Partei ausgeschlossen werden kann. Generalsekretär Lars Klingbeil zeigte sich erfreut darüber. Die Entscheidung mache deutlich, daß „für Thilo Sarrazin und seine verächtlichen Thesen kein Platz in der SPD“ sei. Er habe der Partei „schweren Schaden“ zugefügt. Funktionäre werfen Sarrazin vor, er verbreite rassistische, islamfeindliche Thesen, spreche Muslimen die Menschenwürde ab, argumentiere entsprechend antisemitischen Mustern.

So geht es seit gut zehn Jahren, seit dem Erscheinen seines Buches „Deutschland schafft sich ab“, das dem bundesdeutschen Juste milieu bis heute unverdaulich im Magen liegt und ihm periodische Blähungen verursacht. Und es ist nicht bei dem einen Bestseller geblieben. Es folgten weitere schwergewichtige Veröffentlichungen unter anderem zum Euro-Desaster, zum hybriden Tugendterror, zur Neigung der Politiker, den Realitätssinn gegen Wunschdenken einzutauschen. Seine vorerst letzte Veröffentlichung, „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ (2018), hat seine Gegner erneut entflammt und auf die Barrikaden getrieben.

Während Politik und Medien kein gutes Haar mehr an Sarrazin lassen, ist er zum erfolgreichsten deutschen Sachbuchautor der Gegenwart avanciert, und das nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten. Kein anderer hat eine vergleichbare Resonanz erlangt. Seine Leser finden bei ihm ausgesprochen, was Rundfunk und Fernsehen verschweigen oder bestenfalls als Alibi in die allerspätesten Spätsendungen verschieben. Daher reagieren sie geradezu allergisch auf ihn. Er gilt nicht mehr nur als „umstritten“, sondern als „rassistisch“ und hatte sogar schon Ermittlungen wegen „Volksverhetzung“ am Hals. Eben hat die FAZ ihm den Titel „Wegbereiter der AfD“ verliehen, was wohl abwertend gemeint ist.

Sarrazin ist davon überzeugt, daß Deutschlands Zukunft sich nicht an Genderfragen oder Klimadebatten entscheidet, sondern an den Themen Währung, Einwanderung, Bildung. Und er bleibt nicht bei der Behauptung stehen. Während die schmalen Einsichten etwa seines innerparteilichen Hauptfeindes Ralf Stegner ins handliche Twitter-Format passen, verfaßt Sarrazin fakten- und zahlengestützte Sachbücher, in denen sich kaum einmal Fehler nachweisen lassen. Der promovierte Ökonom und Absolvent eines altsprachlichen Gymnasiums verbindet die Theorie mit praktischen Erfahrungen, die er im Regierungsapparat, in der Bundesbank und als Finanzsenator des notorisch maroden Berlin reichlich gesammelt hat.

Als konsequenter Verantwortungsethiker ist er der letzte Mohikaner einer sozialdemokratischen Traditionslinie, die von Reichspräsident Friedrich Ebert bis zum Bundeskanzler Helmut Schmidt reichte und mit Gerhard Schröders Abgang endgültig versandet ist. „Sieh selber nach! / Was du nicht selber weißt / Weißt du nicht. / Prüfe die Rechnung / Du mußt sie bezahlen. / Lege den Finger auf jeden Posten / Frage: Wie kommt er hierher.“ Nichts kann Thilo Sarrazins Arbeitsweise besser beschreiben als die Verse aus dem „Lob des Lernens“ des Salon-Kommunisten Bertolt Brecht.

Gnadenlos hält er der Politik den Spiegel vor, aus dem sie ihre Verfehlungen medusenhaft anstarren. Die Migrationskosten zum Beispiel beschränken sich nicht auf die unmittelbaren materiellen Aufwendungen. Das kulturelle und kognitive Profil der meisten aktuellen Migranten ähnele dem der muslimischen Zuwanderer, die bereits in Europa sind. Es sei daher anzunehmen, daß sie sich hinsichtlich Bildung, Arbeitsmarkt-integration, Sozialleistungsbezug, Kriminalität und Anfälligkeit für fundamentalistisches Gedankengut ähnlich entwickeln.

Damit wird zerstört, was den wirtschaftlichen Erfolg und den sozialen Frieden in Deutschland verbürgt hat: Zum einen das kognitive Kapital, das durchschnittliche Intelligenzniveau im Land. Schon seit Jahren werden die Anforderungen in den Schulen und an den Universitäten immer weiter abgesenkt, um Schülern und Studenten formale, faktisch aber wertlose Abschlüsse zu ermöglichen. 

Zerstört wird auch das soziale Kapital, vor allem das konsensstiftende Vertrauen. Die Institutionen sind nicht ein für allemal gegeben, sie funktionieren nur, wenn die Bürger die zugrunde gelegten Regeln akzeptiert und verinnerlicht haben, wenn im Gemeinwesen eine relative kulturelle Homogenität herrscht. Die massenhaft importierte, schroffe Diversität löst den Regelkonsens auf, was zu Reibungsverlusten und „Transaktionskosten“ führt. Seine Gegner wissen darauf nichts Substantielles zu erwidern und kompensieren ihre argumentative Schwäche mit wildem Geschrei.

Sarrazins Anwälte haben angekündigt, gegen einen Parteiausschluß vorzugehen. Sogar das Bundesverfassungsgericht soll nötigenfalls bemüht werden.