© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Im Unfrieden mit dem Zeitalter der Massen
Zivilisierung: Zum 75. Todestag des niederländischen Historikers und Kulturkritikers Johan Huizinga
Wolfgang Müller

Es gibt Bücher, deren Titel das Lebensgefühl ihrer Entstehungszeit so prägnant ausdrücken, daß sie Leser in hellen Scharen anlocken. Wie Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (1918) oder Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“, das gleichfalls den endzeitlichen Gestimmtheiten entsprach, die nach der Urkatastrophe eines Weltkrieges nicht nur die Kollektivseele der Deutschen quälten.

Das 1919 veröffentlichte Original „Herfsttijd der Middeleeuwen“ wirkte zunächst freilich nur im engen niederländischen Resonanzraum. Erst 1924, mit der deutschen Übersetzung dieser „Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden“, setzte deren internationale Rezeption ein, die den Autor unter die Klassiker der Geschichtsschreibung aufrücken ließ.

Sein Rendezvous mit dem Ruhm erlebte Huizinga jenseits der Lebensmitte, nach zwei Jahrzehnten stiller Gelehrtenexistenz. Geboren 1872 in Groningen als Sohn eines Medizinprofessors, absolvierte er Schule und Universität in seiner Heimatstadt, promovierte dort 1896, um anschließend ein ungeliebtes Gymnasiallehreramt in Haarlem anzutreten. Aus dieser Fron befreite ihn 1905 der Ruf an die Universität Groningen. Mit dem Wechsel auf den renommierten Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der weit weniger provinziellen Universität Leiden schienen 1915 dann Höhe- und Endpunkt einer konventionellen Historikerlaufbahn erreicht.

Die ewige Sehnsucht nach einem schöneren Leben

Es kam anders. Während des Ersten Weltkriegs, mit der Arbeit an „Herbst des Mittelalters“, stellte Huizinga selbst die Weichen für ein Engagement auf größerer Bühne. Nur äußerlich blieb alles wie gewohnt, bis zur Emeritierung in Leiden, 1942, und bis zu seinem Tod am 1. Februar 1945, noch unter deutscher Besatzung. Aber öffentlich wahrgenommen wurde er seit 1919 mehr und mehr nicht als Kulturhistoriker in der Nachfolge Jacob Burckhardts, sondern als Kulturdiagnostiker und Zeitkritiker.

Bereits das scheinbar gegenwartsferne Hauptwerk, das den Leser in die spätmittelalterliche Exotik des Herzogtums Burgund entführt, will – historisch verpackt und kulturpessimistisch eingetrübt – moderne Verhältnisse widerspiegeln. Eine riskante Aktualisierung, die ihm aber kein schlechtes professionelles Gewissen bereitete, da Huizingas Geschichtsdenken mit anthropologischen, die Wiederkunft des Gleichen verbürgenden Konstanten operiert. Die Schicksale, die „dem mittelalterlichen Menschen“ unter Burgunder-Herzog Karl dem Kühnen (1433–1477) widerfuhren, sind daher aus welthistorischer Vogelschau nicht epochentypisch, sondern allzeit präsent, auch im 20. Jahrhundert. Denn ewig, so die Botschaft, währe „die Sehnsucht der Menschheit nach einem schöneren Leben“. Sie erfülle sich auf nur drei Wegen: durch die allein im Jenseits ihr Ziel findende Weltverleugnung, wie sie das Mittelalter favorisiert, durch neuzeitlich erstrebte Weltverbesserung, sowie durch Weltflucht, die „vor der harten Wirklichkeit in eine schöne Illusion“ ausweiche. Auf diesem dritten Pfad wandelte das sich zwischen 1350 und 1500 unter diversen Herrschern der Ästhetisierung aristokratischen Lebens hingebende Personal des Künste und Ritterspiele fördernden burgundischen Hofes.

Kultur als Kunst der Selbstbeherrschung

Vom Trostraum der Kultur aus blickte auch Huizinga, über den Biographen mitteilen, schon als weltflüchtiges Kind „im permanenten Unfrieden mit seiner Zeit“ gelebt und sich später nie in ihr zu Hause gefühlt zu haben, auf das eigene Zeitalter des „Aufstands der Massen“ (Ortega y Gasset, 1930). Dagegen opponierte er als christlich-konservativer Alteuropäer und Monarchist – Prinzessin Juliane, die spätere Königin der Niederlande, wählte ihn als Studentin nicht von ungefähr zum Lehrer und 1937 sogar zum Trauzeugen –, weil er deren kulturzerstörende Macht fürchtete. Wobei der philosophisch unmusikalische Huizinga, der sich mit einer religiösen, „gänzlich unformulierten Weltanschauung“ begnügte, Kultur als Kunst der Selbstbeherrschung definierte. Ganz im Sinne von Sigmund Freuds Diktum, ohne Triebverzicht keine Kultur. Das der sittenstrenge Mennonit bestätigt zu finden meinte etwa auf Reisen in die USA, wo ihm die „Sexualisierung des Alltags“, die verdummende mediale Manipulierung der Bürger ebenso abstieß wie die Reduktion ihres außengeleiteten Daseins auf Geld, Konsum und Spektakel. 

Huizinga war davon überzeugt, daß Kultur, die Leidenschaften zähmt, Menschen zivilisiert und ihre geistigen Potentiale freisetzt, am besten in Kleinstaaten oder Stadtrepubliken gedeihe, wo sie überdies nur elitären Minderheiten erreichbar sei. Großstaatlich verfaßte Massengesellschaften, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, egal ob demokratisch, faschistisch oder bolschewistisch uniformiert, neigten daher per se zur Barbarei. 

Viel von dem, was Huizinga als konservativer Opponent des totalitären Zeitgeistes vortrug, kam nicht hinaus über ähnliche, ökonomisch und soziologisch schwach fundierte Pauschaldiagnosen und Verfallsnarrative, an denen es in den 1920ern und 30ern nicht mangelte. Aber es spricht wohl für ihren wahren Kern, daß ein Rezensent wie Herbert Marcuse, nachmaliger Guru der kulturunfähigen 68er-Hedonisten, sich in seinem US-Exil über „die schönen Worte des Lobes“ empörte, die Huizinga in seiner „Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit“ („Im Schatten von morgen“, 1935) der „Grundtugend des geläuterten Menschen“ spendet: der Selbstbeherrschung.