© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Die gedächtnisbildende politische Funktion der Literatur
Hüter des Grals
(ob)

Die 1917 als Folge der „Oktoberrevolution“ erlangte Unabhängigkeit Georgiens währte nur kurz. Bereits 1921 oktroyierten die bolschewistischen Herrscher in Moskau den Georgiern eine „Sowjetrepublik“, die auch den Aufstand von 1924 überlebte und sich bis zum Untergang der Sowjet-union behauptete. Trotzdem habe das georgische Volk seine nationale Identität bewahrt. Eine zentrale Rolle sei dabei der „gedächtnisbildenden Funktion der Literatur“ zugefallen. Eine These, die Levan Tsagareli, der an der Universität Tiflis deutschsprachige und vergleichende Literaturwissenschaft lehrt, an einem im Exil entstandenen Hauptwerk Grigol Robakidses, „Der Hüter des Grals“ (1937) nachzuweisen versucht (Arcadia, 54-2019). Robakidse (1880–1962), in seiner Generation der bedeutendste Dichter Georgiens, publizistischer Begleiter der Unabhängigkeitsbewegung, ab 1931 als  „Zwangsmigrant“ in Berlin, habe mit seinem „Gralsroman“ die „existentielle Bedrohung“ der Auslöschung georgischer Identität durch den Bolschewismus thematisiert und so die Widerstandsmentalität des nationalen Erinnerungskollektivs gestärkt. Darüber hinaus mache der Roman einen universellen Anspruch geltend, indem er den Kampf zwischen dem „lokal Nationalen“ und dem „riesengroßen sowjetischen Vielvölkerstaat“ als „ewigen Kampf zwischen Gut und Böse“ darstelle. Wobei sich das bolschewistisch-atheistische Böse als das Gute tarne, das die „totale Freiheit“ predige. Religiös gebundene Völker wie die Georgier, die Robakidses Roman zu „Hütern der abendländischen christlichen Tradition“  erhebe, durchschauten solche Ideologien , weil sie sich in geschichtlicher Erinnerung über sich selbst und die Welt orientierten. 


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