© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Rückzug in die Natur
Innere Emigration, JF-Serie Teil VI: Ernst Wiecherts Roman „Das einfache Leben“
Günter Scholdt

Ernst Wiecherts Roman „Das einfache Leben“, 1939 erschienen, avancierte trotz amtlicher Distanzierung zum Klassiker der Inneren Emigration. Bereits 1942 war die Auflage auf 260.000 gestiegen, was sich nicht zuletzt durch seinen Charakter als Trostbuch erklärt. Das galt für eine breite Leserschaft respektive Wiechert-Gemeinde wie für den Dichter selbst, der sich gerade mit diesem selbsttherapeutischen Werk etwas von der Seele spülte, was sie – laut „Jahre und Zeiten“ (1949) – „beschmutzt, befleckt, erniedrigt, entwürdigt und zu Tode gequält“ habe. Er reagierte dabei besonders auf die zur Einschüchterung angeordnete Haft zwischen Mai und August 1938, zunächst im Gestapo-Gefängnis, dann im KZ Buchenwald.

Denn der ursprünglich von NS-Kulturfunktionären wohlgelittene Autor hatte sich als widerborstig gezeigt, hatte gewarnt vor dem Übermut der Macht und Verlierer des politischen Umschwungs verteidigt. Seine Münchner Reden „Der Dichter und die Jugend“ (1933) und „Der Dichter und die Zeit“ (1935) galten als regimekritische Sensationen. Auch in seinem populären Erzählwerk fand sich Oppositionelles. Und als Wiechert 1938 sich auch noch mit Martin Niemöller solidarisierte und der Abstimmung über den Österreich-Anschluß fernblieb, war das Maß voll. Er wurde zur „Umerziehung“ ins Konzentrationslager verbracht, danach von

Goebbels abermals verwarnt und künftig zur Vorzensur seiner Schriften verpflichtet. In Folge erschien als erstes sein wohl berühmtestes Werk: „Das einfache Leben“.

Selbstfindung auf einer masurischen Insel

Der Roman handelt von der Selbstfindung des Korvettenkapitäns a. D. Thomas von Orla, der sein Trauma von Krieg, Revolution, einer seelenverheerenden Gegenwart und der unerfüllten Ehe mit einer lebenslustigen Frau verarbeitet, indem er sich als Fischer und Jäger auf eine masurische Insel zurückzieht. Das Bibelzitat „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz“ hat ihn innerlich getroffen. Werte des Kaiserreichs, der frühen Nachkriegszeit und einer unbefragten religiösen Gewißheit sind ihm zerbrochen. Nun will er loslassen, was ihm als zivilisatorisches Talmi erscheint, und neuen Sinn beziehungsweise ein tauglicheres Lebensgesetz suchen. Einsame harte Arbeit in einer eindrucksvoll beschworenen unberührten Natur, Liebe und Entsagung lassen ihn seelisch genesen, während sein ihm zunehmend entfremdeter Sohn im Sinne des Zeitgeists als forscher Offizier in künftige Schlachten ziehen wird. 

Literarische Innere Emigration hieß meist Schreiben mit halboffenem Visier und einer Neigung zu Überzeitlichem. Doch aktuelle Politik spielt auch in diese Handlung hinein. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, kam an Wiecherts Mahnung kaum vorbei, sich von weiteren militärischen „Götterdämmerungen“ fernzuhalten. Auffallend häufig ist sein Romanpersonal, kriegsbedingt, von seelisch Verstörten, Zerbrochenen oder Kriegstoten und deren erschütterndem Schicksal betroffen. Demgegenüber fällt das Militärgehabe des Gutsbesitzers und Generals samt Faktotum, die wie Preußen-Karikaturen oder Sternheims Theaterfiguren parlieren, kaum ins Gewicht.

Auch frühere erbitterte Gegner aus Revolutions- oder Spartakustagen werden nun nicht mehr gemäß Freund-Feind-Denken enthumanisiert. Und in einer bemerkenswert deutlichen antibellizistischen Stelle des Romans verweigert sich Orla der Mitarbeit in einem der Kampfbünde der 1920er Jahre: „Der Krieg sei mehr gewesen als eine Reihe von Schlachten. (…) ehe er behilflich sei, nichts als die alten Begriffe von neuem in junge Köpfe zu hämmern, als ob die Welt nicht elf Millionen Tote und eine ganze Reihe alter Götter verloren habe, eher wolle er seine Zeit mit nichts anderem zubringen, als Netze zu flicken und Kartoffeln zu graben. Vielleicht würde man doch einmal merken, daß die Weltgeschichte nicht nur anklopfe, um alte Kleider zu kaufen.“ 

Kritiker warfen ihm deutsche Innerlichkeit vor

Wegen solcher Passagen und seiner unstreitigen Opposition im Dritten Reich wurde Wiechert nach dessen Sturz sogar international als Vertreter einer nicht kompromittierten deutschen Geistigkeit gefeiert. Doch schon bald mehrten sich Angriffe linksavantgardistischer Autoren und Kritiker, denen sein Pathos als salbungsvoll-pseudoreligiöse Larmoyanz und seine antimoderne Rückkehr zur Natur als Sackgasse erschienen.

Eine für die 1960er Jahre typische Attacke startete Franz Schonauer, der Wiechert als „extremsten Fall“ deutscher Innerlichkeit abqualifizierte. Man könne die Wirkung seiner fatalen Lehren gar „nicht verhängnisvoll genug“ einschätzen. Sie beraubten den Schriftsteller im bürgerlichen Bewußtsein seiner wichtigsten Funktion als „moralische Instanz der Öffentlichkeit“: „Derweil die Nationalsozialisten mit allen Mitteln der Teufelei Geschichte machen, läßt sich das bücherlesende, bürgerliche Publikum vom Rauschen der großen Wälder einschläfern, gibt es sich hin dem süßen Traum vom ‘einfachen Leben’. Eine Groteske, daß dieser Roman (…) zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erscheint, und zugleich ein Symptom der intellektuellen Verdummung (…). Es ist die vita contemplativa, von der das Buch auf eine vertrackte illusionierende Weise erzählt, die als Zustand der Ruhe und Problemlosigkeit fasziniert, die Botschaft von einer Welt, die außerhalb aller aktuellen Bedrängnisse liegt.“ 

Als Beleg zitiert er eine Passage aus dem Schluß: „Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung, alles war richtig, wie es war und werden würde. Es war nicht gut und nicht böse. Er hatte einen Sohn, der ihm Ehre machen würde, und es kam nicht darauf an, daß er nicht sein Ebenbild war. Er hatte eine junge Schwester namens Marianne, und es kam nicht darauf an, daß sie ebensogut fünfzehn oder zwanzig Jahre älter hätte sein können. Die Schöpfung hatte es nicht gewollt, und sie hatte ihre zureichenden Gründe dafür gehabt. Sie hatte auch nicht gewollt, daß der junge Graf am Leben blieb oder das Kind mit Namen Gloria. Sie ging ihren Gang. Sie streute aus und sammelte wieder ein. (…) Man trug seinen Helm und rührte seine Hände, und ab und zu konnte man seinen Helm abbinden und die Hände in den Schoß legen. Nicht oft, aber doch ab und zu. Und manchmal konnte man es in den Nächten über das Wasser blitzen sehen, einen stillen, rötlichen Schein, und konnte meinen, daß er von der goldenen Krone herrührte, die auf dem Grunde lag.“ 

Für Wiechert also waltete, ähnlich wie für Stifter, ein höheres (zuweilen unerbittliches) Gesetz über Mensch und Natur, das wir nicht beeinflussen, aber erahnen beziehungsweise durch Liebe mildern können. Insofern schöpfte er Hoffnung aus der Deutung säkularer Abläufe. Das provozierte eine ernüchterte jüngere Generation, deren rigoroses Wertungsmotto einer „Kahlschlag“-Ästhetik sich eher an der Devise ausrichtete: „Kein Trost nirgendwo“. Sie sahen in der Gegenwelt des „Einfachen Lebens“ nur Zeitflucht und illusionäres Wegschauen.

Ein Gegenentwurf zu schauriger Aktualität 

Dabei kann Wiecherts „Insel der Seligen“ nur vor dem Hintergrund der befürchteten Katastrophe umfassend verstanden werden als humane Kontrafaktur schauriger Aktualität. „Es war ein Traumbuch“, heißt es in autobiographischer Rückschau, „in dem ich mich mit Flügeln über die grauenvolle Erde hinaushob (…) Mit ihm baute ich noch einmal eine Welt auf, nachdem die irdische mir zusammengebrochen war. (…) Es war mir, als müßte ich nicht nur mich, sondern auch das Bild meines Volkes retten.“ 

Über die Aussagekraft eines wiederbelebten „Nachsommers“ im Jahr 1939 mag man streiten. Doch auch Wiechert-Kritiker sollten eingestehen, daß der Roman nicht blauäugig, sondern als durchaus zeitbewußter Gegenentwurf konzipiert war. Auch reduzierte er die Rezeption der Leser keineswegs auf irrational-quietistische Zeitflucht. Man konnte sich aus dem Kontrast sogar explizit zu widerständigem Verhalten motivieren, wofür ja Wiecherts eigenes Verhalten zeugt, der in jener Zeit heimlich den KZ-Bericht „Der Totenwald“ fertigte. Auch darf man nie vergessen, daß in totalitären Zeiten der Ausstieg ins Private eine hochpolitische Geste sein konnte. 

Insofern ist es nicht ohne Pikanterie, daß reziprok vergleichbare Vorwürfe egozentrischer Vereinzelung und passiver Weltflucht ausgerechnet von nationalsozialistischer Seite erhoben wurden. Auch Rosenbergs „Bücherkunde“ sah „keine Welt einer gesunden Innerlichkeit, die man bejahen kann“, sondern ein ichbezogenes Buch „ohne allgemeingültige Bedeutung für unsere Gegenwart“. Fazit aus NS-Sicht: Nicht empfehlenswert. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.