© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/20 / 31. Januar 2020

Ausbruch aus der Festung
Vor 75 Jahren kämpften in der eingekesselten Stadt Posen Tausende deutsche Soldaten / Nur wenige entkamen dem Inferno
Alexander Graf

Auch in den ersten Monaten des letzten Kriegsjahres hielt Hitler noch an der Verteidigungsstrategie der „befestigten Plätze“ fest, um den sowjetischen Vormarsch aufzuhalten. Die sah vor, daß sich die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen deutschen Truppen in größeren Ortschaften oder Städten eingraben und umzingeln lassen sollten. Im Kalkül des „größten Feldherrn aller Zeiten“ (Keitel) würde die Rote Armee zur Belagerung dieser Stellungen so viele Kräfte aufbieten müssen, daß durch ihr Fehlen das Vorrücken verlangsamt oder zumindest zeitweilig gestoppt werden würde. 

Doch wie die vorangegangenen Monate gezeigt hatten, verfügten die Sowjets über dermaßen viele Soldaten, daß ihre Angriffsspitzen diese „befestigten Plätze“ oder zu Festungen erklärten Städte links liegenlassen konnten. Die Belagerung und Eroberung überließen sie nachrückenden Einheiten. So erging es auch der Stadt Posen im „Reichsgau Wartheland“ vor achtzig Jahren. 

Am 20. Januar 1945 erklärte Gauleiter Arthur Greiser die Stadt zur Festung – und verließ sie kurz vor der Einschließung durch die Rote Armee. Nach langem Zögern waren die deutschen Einwohner noch zuvor evakuiert worden, was jedoch viel zu spät war. Denn auf ihrer verzweifelten Flucht nach Westen erwartete viele der Tod. In der zunehmend chaotischen Lage nach dem Beginn der russischen Großoffensive fielen die Zivilisten oftmals dem Feind in die Hände. 

20.000 Mann verteidigten sich drei Wochen lang

Generalmajor Ernst Mattern sollte die eingeschlossene Stadt mit knapp 20.000 Mann verteidigen. Dabei handelte es sich um „wild zusammengewürfelte Einheiten“, wie sich einer der dort eingesetzten Soldaten nach dem Krieg im Rahmen des Projekts „Zeitzeugen-Portal“ des Hauses der Geschichte erinnerte. Neben zufällig anwesenden Wehrmachts- und SS-Einheiten wurden neben Landesschützen und Volkssturm auch Eisenbahner und Feuerwehrleuten zur Verteidigung aufgeboten. Den Kern bildeten jedoch 1.500 Angehörige der örtlichen Schule für Fahnenjunker der Infanterie, die per Sonderbefehl zu Leutnants befördert worden waren. 

Da sowohl der Reichsführer SS Heinrich Himmler als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel und Hitler einen Entsatzangriff ablehnten, war das Schicksal der eingeschlossenen Verteidiger besiegelt. Die Russen, die über die uneingeschränkte Luftherrschaft verfügten, eroberten die „Festung Posen“ langsam aber sicher von Haus zu Haus. 

In dieser aussichtslosen Lage wagten in der Nacht des 30. Januar etwa 1.200 Landser den Ausbruch. Zwar gelang es ihnen zur eigenen Überraschung, durch den Belagerungsring zu schlüpfen, doch sie ahnten nicht, wie weit die eigenen Linien bereits entfernt waren. Am 1. Februar „war es den Russen bereits gelungen, bis zum ostwärtigen Ufer der Oder durchzustoßen. Das war immerhin eine Entfernung von circa 140 Kilometer von Posen aus gesehen“, schilderte der Überlebende Werner Brähler später seine Erlebnisse in einem Projekt des Deutschen Historischen Museums. „Da wir über kein Funkgerät verfügten, keine Nachrichten im Radio verfolgen konnten, blieb uns nur eine Orientierung in westlicher Richtung, wo wir deutsche Truppen vermuteten.“ 

So lange es hell war, versteckten sich die deutschen Soldaten in den Wäldern, um der Entdeckung durch russische Einheiten zu entgehen. Da die Soldaten davon ausgegangen waren, die Hauptkampflinie sei nah, hatten sie darauf verzichtet, mehr als nur eine Notverpflegung an Nahrungsmitteln mitzunehmen. So mußten sie in den kommenden Tagen und Wochen nachts in abgelegenen Häusern nach Essensvorräten suchen. 

Dabei sahen sie immer wieder, wie die vorrückenden Russen unter der Zivilbevölkerung gewütet hatten. „Besonders in den Herrenhäusern und Gutshöfen, die wir aufsuchten, fanden wir tote vergewaltigte Frauen, Mädchen; alte Männer und alte Frauen, die man willkürlich erschossen hatte. Der Wohnbereich war in unvorstellbarer Weise verschmutzt, mit brachialer Gewalt waren Schränke und Truhen aufgebrochen und der Inhalt lag oft verstreut auf dem Boden, Essenreste und Fäkalien ebenso. Betten und Polstermöbel waren teilweise aufgeschlitzt, Bilder abgehangen und verschwunden“, schilderte Brähler das Bild, das sich ihm damals bot. 

Nur wenige konnten die eigenen Linien erreichen

Je näher die Front kam, desto mehr russische Soldaten sahen Brähler und seine Kameraden im Hinterland. Um nicht entdeckt zu werden, teilten sich die ehemaligen Verteidiger Posens in Kleingruppen auf. So hofften sie, unbemerkt die eigenen Linien zu erreichen. Für Brähler und viele seiner Mitstreiter zerschlug sich die Hoffnung jedoch kurz vor dem Ziel und sie gerieten in Gefangenschaft. Von den ausgebrochenen rund 1.200 Mann erreichten nur wenige die deutschen Verbände westlich der Oder. Einige Dutzend konnten jenseits der Netze nördwärts eigene Linien erreichen. Genaue Zahlen sind angesichts der chaotischen Lage auf deutscher Seite nicht überliefert. Einige der Kleingruppen schlossen sich auch anderen versprengten Einheiten im russischen Hinterland der Front an. Doch die meisten endeten in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. 

Damit teilten sie das Schicksal der Verteidiger, die die Einnahme Posens überlebten. Die Russen eroberten die ehemalige Gauhauptstadt nach schweren Kämpfen schließlich am 23. Februar. Der Widerstand der Verteidiger hatte vier Divisionen der russischen 8. Garde-Armee und zwei der 69. Armee gebunden. Das spielte in der militärischen Lage jedoch keine Rolle mehr.