© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Orwell läßt grüßen
China: Pekings umstrittenes Sozialkreditsystem – zwischen Sicherheit und grenzenloser Überwachung
Marc Zoellner

Aus Lius Worten ist das Mißtrauen zu lesen: „Ich habe so viele furchtbare Geschichten über Kindermädchen gehört, vom Stehlen bis hin zum Mißbrauch“, berichtet die 35jährige Shanghaierin empört von den Erfahrungen ihrer eigenen Nannysuche im Interview mit der britischen Anthropologin Xinyuan Wang. „Die kommen vom Land in die große Stadt, und niemand kann wirklich sagen, woher sie stammen und was sie bisher taten. Alles kann gefälscht sein, selbst ihr Ausweis und ihr persönlicher Hintergrund. Ich habe sogar von Agenturen gehört, die solchen Arbeitern dabei helfen, ein ganzes Paket an Informationen zu fälschen.“

Für Wang sind solche Äußerungen keine Überraschung. Die vergangenen sechzehn Monate hatte die am Londoner University College tätige Wissenschaftlerin, die sich mit den Umwälzungen der chinesischen Gesellschaft im Zeitalter von Digitalisierung und sozialen Netzwerken beschäftigt, intensive Feldforschung in den Millionenmetropolen der südchinesischen Küste betrieben und dabei über 500 solcher Interviews geführt. 

Die Chinesen kümmert das Überwachungssystem wenig 

„Unterhaltungen über das Sozialkreditsystem kamen dabei auf ganz natürlichem Weg zustande und wurden nicht forciert“, erklärt die gebürtige Chinesin dabei die Besonderheiten ihrer Methodik. Ein Umstand, welche die Interviewten laut Wangs Meinung zu relativ freien Aussagen animierte – und damit zu erstaunlichen Erkenntnissen führte. 

Denn anders als in den Industrienationen kritisiert in China – zumindest öffentlich – kaum jemand das als „Sozialkreditsystem“ bekannt gewordene Kontrollprojekt der Kommunistischen Partei, welches in westlichen Medien längst schon das Stigma des totalitären Überwachungsstaats aufgeprägt bekam. Die meisten der befragten Chinesen, so Wang, sähen diesem überraschenderweise durchaus positiv entgegen.

Das hat seinen Grund: Denn kaum ein anderer Staat der Welt hat in den vergangenen Jahrzehnten derart rasante Fortschritte erzielen können wie China. Seit 1965 verdoppelte sich die Bevölkerung binnen drei Generationen auf nahezu 1,4 Milliarden Menschen. Mit Beginn der Liberalisierung wichtiger Zweige in Handel und Industrie in den 1980ern wuchs Chinas Wirtschaft exponentiell zur Zahl seiner Bürger um zweistellige Prozentpunkte fast jedes einzelne Jahr, was die Basis einer wohlhabenden Mittelschicht speziell in den Großstädten schuf. 

Doch der neu erworbene Wohlstand diente nicht nur als Motor einer prosperierenden Binnenwirtschaft – er brachte ebenso tiefgreifende soziale Transformationen mit sich. Von einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten der Kulturrevolution Mao Zedongs, die zwischen 1966 und 1976 bis zu 20 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, hat sich das Gros an Chinas Bürgern längst schon verabschiedet.

 Statussymbole wie neueste Smartphones, teure Autos, extravagante Wohnungseinrichtungen oder auch kostspielige Auslandsreisen bestimmen gerade unter den jungen, vom Wohlstand am häufigsten profitierenden Chinesen das persönliche Ansehen sowie die zwischenmenschliche Kommunikation. Die Dynamik von Wachstum und Individualisierung birgt allerdings auch ihre Schattenseite – in Millionen von Arbeitern und Jugendlichen, denen schlicht der Atem fehlt, in dieser Entwicklung noch mitzuhalten.

„Zeitgleich mit der bemerkenswerten Steigerung des Wirtschaftswachstums ist Chinas Kriminalitätsrate dramatisch angestiegen“, bestätigen die australischen Wirtschaftswissenschaftler Yanrui Wu und Tsun Se Cheong. „Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft führte zum Zusammenbruch etablierter gesellschaftlicher Organisationsformen sowie traditioneller Beziehungen. Infolgedessen haben auch Verbrechen aufgrund des Mangels an gesellschaftlicher Integration erheblich zugenommen.“ Offiziell zählt China zwar zu den Ländern mit den wenigsten Verbrechen pro Kopf. Die Dunkelziffer der von Chinas politischer Führung aus Prestigegründen verschleierten Vergehen und Straftaten liegt den Wissenschaftlern zufolge allerdings beträchtlich höher. „Wenn etwas Schlimmes passiert“, zeigt sich auch Liu aus Shanghai überzeugt, „können diese Leute einfach in eine andere Gegend ziehen, wo niemand sie kennt.“ In einem Land mit nahezu anderthalb Milliarden Einwohnern könne ein einzelner Straftäter schnell untertauchen und sich eine neue Identität aufbauen.

Auch Unternehmen stehen unter Druck

„China hat seinen moralischen Kompaß verloren“, attestierte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping bereits zu seiner Amtseinführung im März 2013. Nur ein Jahr später, im Juni 2014, präsentierte der Staatsrat seine erste konkrete Ausarbeitung eines Sozialkreditsystems der Öffentlichkeit: eine Datenbank, die bis Ende 2020 jeden einzelnen Bürger und jedes einzelne Unternehmen umfassen sowie nach dessen Verhalten – im Guten wie im Schlechten – bewerten soll. 

Tatsächlich dringt die Analyse des Überwachungsprogramms dabei sehr tief in die Privatsphäre seiner Staatsangehörigen vor. Neben der Auflistung von Straftaten und Resozialisationsmaßnahmen wird in bereits laufenden Pilotprojekten in Peking und anderen Großstädten unter anderem das Kaufverhalten der Einwohner erfaßt, ihre daraus resultierende Kreditwürdigkeit, ihr Onlineverhalten sowie, was Menschenrechtler am dringlichsten bemängeln, ihre Aktivitäten, Kontakte und Äußerungen in sozialen Netzwerken.

„Bis 2020 plant das chinesische Regime, ein Orwellsches System einzuführen, welches dazu dient, praktisch jede Facette des menschlichen Lebens zu kontrollieren“, warnte US-Vizepräsident Mike Pence im Oktober 2018.  

Künftig, und das bestätigen die Pläne der chinesischen Staatsführung, zählt für das Vorankommen von Menschen und Unternehmen, auf welcher der beiden Listen sie von Regierung, Justiz und Mitbürgern angesiedelt werden: Der roten oder der schwarzen. Das Bewertungssystem ist dabei recht einfach gehalten. Mit einem neutralen Satz von 1.000 Punkten startet jeder einzelne in der Datenbank. Für positives Verhalten können vorwiegend vom Staatsapparat sowie den angeschlossenen Staatswirtschaften Pluspunkte vergeben werden; wer sich kriminell, subversiv oder kreditunwürdig verhält, bekommt Punkte abgezogen.

Immerhin sollen die Auswertungen der – intransparent erstellten – Datenbanken nicht nur im Internet der Öffentlichkeit publik gemacht werden, so daß auch jeder Bürger über das Gute und bevorzugt das Schlechte seiner Nachbarn, seiner Freunde, seiner Verwandten sowie der Ladenbetreiber um die Ecke mit nur einem Mausklick an Arbeit erfahren dürfte. Vielmehr spielt das Punktesystem auch in der Karriere eine Rolle: Negativ bewertete Personen werden künftig von der Vergabe höherer Posten in staatlich kontrollierten Verwaltungs- und Wirtschaftszweigen ausgeschlossen. Auch Firmen mit schlechter Bewertung erhalten keine Staatsaufträge mehr.

Bereits die derzeit laufenden Modellprojekte verdeutlichen, wie rasch ein gesellschaftlicher Abstieg passieren kann: Erst in wenigen Städten zur Erprobung implementiert, fanden sich bis März 2019 bereits 13,5 Millionen Menschen auf der schwarzen Liste wieder. Die Gründe hierfür reichten von „vorsätzlichem Mißverhalten“ über „schlechtes Benehmen“ bis hin zur bloßen Tatsache, eine Rate für den Kredit nicht rechtzeitig zurückbezahlt zu haben. Die Sanktionierung dieser negativ Bewerteten durch die chinesische Staatsführung erfolgte zumindest noch verhältnismäßig bescheiden. Ihnen wurde im gleichen Zeitraum der Kauf von 5,7 Millionen Zug- sowie 20,5 Millionen Flugtickets untersagt.

In der nordchinesischen Provinz Hebei allerdings, die die Hauptstadt Peking geographisch von drei Seiten umschließt, steht den 75 Millionen Einwohnern seit Anfang 2019 eine ganz besondere Smartphone-App zur freien Verfügung: „Eine Karte säumiger Schuldner“ heißt die Anwendung schlicht, die ein Radar über einer Straßenkarte simuliert und im Umkreis von 500 Metern sämtliche Mitbürger anzeigt, die Rückstände in einer Kreditabzahlung vorweisen. 

Gerichtshof ruft zur Denunziation auf

„Dies ist Teil unserer Maßnahmen, unseren Entscheidungen Nachdruck zu geben und eine gesellschaftlich glaubwürdige Umwelt zu erschaffen“, begründete der bei der App-Programmierung federführende Gerichtshof von Hebei diesen drastischen Schritt in die Öffentlichkeit und rief die Bürger zur Kooperation auf, um jeden der Justiz zu verraten, der trotz eigenen Bekundens doch in der Lage sei, Teile seiner Schulden abzutragen.

Die hohe mutmaßliche Akzeptanz des Sozialkreditsystems der KP, welches die Pekinger Staatsführung schon bis Ende 2020 auf ganz China flächendeckend ausweiten möchte, erklären sich mit dem System beschäftigende westliche Ethnologen und Ostasienexperten nicht unbedingt mit einer Loyalität der chinesischen Bürger zu ihrer Regierung. Vielmehr spielten kulturelle und quasireligiöse Motive eine Rolle; entlehnt dem tief in Chinas Geschichte verwurzelten Konfuzianismus oder auch dem Karma-Prinzip des Buddhismus, welches selbst als eine Art himmlisches Punktesystem darzustellen gepflegt wird.

 „Ich glaube wirklich, daß sich eine weit höhere Prozentzahl an Amerikanern finden ließe, die sich der Gefahren des chinesischen Sozialkredits bewußt sind, als man sie unter den Chinesen finden könnte“, glaubt auch Jeremy Daum, der für die Yale Law School in Peking die Rechtsentwicklung des chinesischen Staats untersucht. Doch in einer immer beschleunigteren Zeit von Wachstum und Wohlstand auf der einen Seite, von Abgehängten und dem Aufschwung krimineller Milieus auf der anderen, falle das Versprechen des Staates nach Sicherheit seiner Angehörigen wie in der „guten alten Zeit“ bei immer mehr Menschen auf fruchtbaren Boden.