© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Mit dem Blick für bürgerliche Lebenslügen
Ottomar Enking: Der Schriftsteller wurde vor 75 Jahren ein Opfer des Dresdner Feuersturms
Oliver Busch

Heute von flachen Wohnblöcken gesäumt, lag die vom Großen Garten schnurgerade Richtung Elbe führende Dresdner Wintergartenstraße bis zum 13. Februar 1945 in einem locker mit villenartigen Mietshäusern bebauten Bürgerquartier, kaum zwei Kilometer Luftlinie von der Frauenkirche entfernt. Nicht weit genug, um nicht durch den aus dem Zentrum der sächsischen Hauptstadt nach Südosten rasenden Feuersturm eingeäschert zu werden, den das Bombardement der beiden Angriffswellen der Royal Air Force in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar entfachte.

Unter den Abertausenden ziviler Opfer, die in diesem Inferno verbrannten oder erstickten, befand sich der 77jährige Schriftsteller Ottomar Enking, der seit 1910 im ersten Stock der Wintergartenstraße 27 wohnte. Neuere Literaturlexika belehren, daß Enking nach dem Ersten Weltkrieg „mehr und mehr in Vergessenheit geraten“ sei. Sehr zu Unrecht, was ein Grund ist, sich seiner zum 75. Jahrestag der anglo-amerikanischen Terrorangriffe auf die Kulturmetropole Dresden zu erinnern. 

Enking, gebürtiger Kieler mit norwegisch-dänischen Wurzeln, fand spät zur schreibenden Zunft. Nach journalistischen Anfängen in Kiel und Köln, ging er 1899 nach Wismar, als Chefredakteur des Mecklenburger Tagesblatts, um 1904 als Redakteur zum Dresdner Anzeiger zu wechseln. Zur elbflorentinischen Kulturszene bestand Kontakt seit 1895, als er mit der alptraumhaften Erzählung „Ragnar Svanoe“ im Dresdner Verlag von Carl Reißner debütierte.

Diesem Haus, das sich rühmte, bei der Wegbereitung des Naturalismus eine revolutionäre Rolle gespielt zu haben, blieb der Autor Enking bis 1922 treu, obwohl einige Werke wie „Die Darnekower“ (1906) und „Kantor Liebe“ (1910) bei Bruno Cassirer erschienen, dem Verleger Heinrich Manns. Der Durchbruch glückte ihm jedoch mit einem Reißner-Roman: „Familie P. C. Behm“ (1902), der bis 1912 zehn Auflagen erreichte und ihn zum Wagnis ermunterte, sich 1906 als „freier Schriftsteller“ zu etablieren; nur notdürftig abgesichert als Dozent der Dresdner Akademie für Kunstgewerbe.  

Aufgrund der zwei Dutzend Romane, deren Handlungen zumeist in Hafenorten an der Ostsee spielen, sortierte die zeitgenössische Kritik Enking stereotyp in die Rubrik Heimatdichtung, Abteilung „Kleinstadterzählung“ ein, die den Leser einlud, sich in „humorvollen Idyllen“ an den „Lebensschicksalen norddeutscher Menschen“ zu erfreuen. Weniger blumig drückten sich Germanisten nach 1945 aus, wenn sie Enking mitsamt jeder Spielart von „Heimatkunst“ für die Stiftung jenes „Verblendungszusammenhangs“ (Adorno) anklagten, der das deutsche Bürger- und Kleinbürgertum für den „Faschismus“ optieren ließ.

Es genügt die Lektüre nur eines vermeintlich „humorvollen“ Romans Enkings, damit dem Leser das Lachen im Halse steckenbleibt. Denn das Gros seiner Texte voll surrealer, kafkaesker Einsprengsel ist durchaus geeignet, Jean-Paul Sartres Verdikt „Die Hölle – das sind die anderen“ zu illustrieren. Im „heimlich-unheimlichen Gebrodel“, wie es eine autobiographische Notiz nennt, in mittelalterlich verwinkelten Gassen, wo in Neid geschwängerter Atmosphäre jeder jeden belauert, in alten Häusern mit ihren dunklen, muffigen Wohnungen, die die Topographie deutscher Küstenstädte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierten, habe er die wirklichkeitsgetreue Folie für die Darstellung menschlicher Konflikte „in Reinkultur“ gefunden.

Ewig menschlicher Tragödienstoff

Räumliche übersetze sich dort in seelische Enge, in Herzensträgheit und Geistesarmut. Kaum eine Romanfigur zieht der Autor aus diesem Sumpf kollektiv Gescheiterter ins Freie selbstbestimmten Daseins. Die meisten enden, wenn nicht im Selbstmord, so in einer „vor dem biologischen Tod eintretenden Verwesung“ (Ernst Alker, 1977). Wie Anna Behm, die erbarmungswürdige „Heldin“ des Bestsellers „Familie P. C. Behm“, deren Philister-Eltern stets „nur das Beste“ für sie wollten, die, nach desaströsen Beziehungen sowie einer im Selbstmordversuch mündenden Ehe, mit einem Holzbein über das Pflaster (Wismar-) Koggenstedts humpelt, „fertig mit Gott und der Welt“. 

Im Unterschied zu Sophokles oder Shakespeare haben Königshäuser für Enking kein Monopol auf Tragik. Wie Menschen scheitern, ist ebenso gut an „Durchschnittsmenschen“ zu zeigen. So fiel es ihm leicht, „ewig menschlichen“ Tragödienstoff ins kleinbürgerliche Milieu zu übertragen. Wo das Unvermögen kleiner Leute, sich zu „höherem Menschentum“ zu bilden, der Ohnmacht antiker Protagonisten entspricht, dem über sie verhängten göttlichen Schicksal zu trotzen.

Mit ähnlicher Stoßrichtung, aber weitaus subtiler als der Agitator George Grosz, der 1925 bei Reißner seinen „Spießer-Spiegel“ veröffentlichte, vermittelt Enking, „mit dem Blick für die Lebenslüge begabt wie Ibsen“ (Otto Hachtmann, 1924), kein „Verblendung stiftendes“, sondern ein warnendes Schreckbild der kleinbürgerlich konditionierten Gesellschaft, deren humane Defekte 1933 in die politische Katastrophe führten.

Eine historische Lektion, die Rückfälle in solchen Massenwahn nicht ausschließt, die wie im Großen von „Willkommenskultur“ und „Energiewende“ so auch im Kleinen längst zu beobachten sind. Etwa wenn Apologeten allliierten Bombenterrors in diesem Jahr einmal mehr tönen: „Dresden war keine unschuldige Stadt“. Der hellhörige Ottomar Enking hätte derart in Sprechblasen blubberndes „unheimliches Gebrodel“ jedenfalls als gemeingefährliche Blähungen ewigen Kleinbürgertums wahrgenommen.