© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Wenn der Gegner sich nicht zum Feind eignet
Innere Emigration, JF-Serie Teil VII: Horst Langes Erzählung „Auf den Hügeln vor Moskau“
Günter Scholdt

Mochte das Dritte Reich in begrenztem Rahmen auch manche literarische Eigenwilligkeit tolerieren, so betraf dies in aller Regel nicht die Sicht des Weltkriegs. Verständnis für die Feinde, Zweifel an den offiziell genannten Kriegsursachen oder der Siegeszuversicht galten keineswegs als „Kavaliersdelikte“. Und Defaitismus war buchstäblich lebensgefährlich. So liegt der Schluß nahe, daß für Autoren im Dritten Reich schlechterdings kein Gestaltungsspielraum gegeben war, um anderes zu produzieren als heroische Erbauungs- oder Durchhalteliteratur. Das galt gewiß für mehr als 90 Prozent aller entsprechenden Texte, doch selbst dabei riskierten einige Mutige mehr.

Alexander Lernet-Holenia tat es zum Beispiel in „Mars im Widder“. Der Roman schildert einen monströsen Zug rückwärtslaufender Krebse von Osten nach Westen, was umgehend als Allegorie des später erzwungenen Rückzugs der deutschen Angriffsarmee entschlüsselt wurde. Auch widersprach der Text implizit Hitlers offizieller Version vom Beginn der Feindseligkeiten durch polnische Truppen. Insofern wurde die für 1941 vorgesehene und bereits gedruckte Buchauflage vor Erscheinen vom Propagandaminister verboten.

Besser erging es Horst Langes Erzählband „Die Leuchtkugeln“. Er konnte trotz mancher nichtkonformer Passagen immerhin noch 1944 erscheinen, nachdem der Autor bereits den Zeitungs-Vorabdruck der Titelerzählung durch geschickt-couragiertes Lavieren entgegen Einsprüchen der Militärzensur ermöglicht hatte. Die im Band enthaltene Erzählung „Auf den Hügeln vor Moskau“ vollbringt das scheinbar Unmögliche, innerhalb eines engen Korsetts propagandistischer Vorgaben eine auch ästhetisch überzeugende humanitäre Botschaft zu versenden. 

Eine (moralische) Fundamentalkritik des Krieges im Osten findet darin zwar begreiflicherweise nicht statt. Auch wird das Soldatische nicht schlechthin abgewertet. Vielmehr bleiben entsprechende Tugenden wie Mut, Entschlußkraft oder Kameradschaft bei Lange grundsätzlich in Geltung und werden aus der täglichen tödlichen Gefahr heraus teils als lebensrettende Gemeinschaft erfahren. Hinzu kommt eine für den Autor spezifische Denkfigur, in der das Kriegsgeschehen als solches, unabhängig von spezifischen Zielen und Voraussetzungen, auch als „Kampf von Materie und Geist“ im Sinne menschlicher Bewährung gedeutet wird. 

Autobiographischer Handlungskern

Allerdings finden sich bei Lange keine militaristischen oder bellizistischen Tendenzen und gewiß keine Sympathien für die brutalen politisch-ethnischen Visionen des Regimes. Auch lassen die Leiden der russischen Bevölkerung den Autor nicht kalt. Und das offiziell verordnete „Untermenschen“-Klischee stößt auf ausdrückliche Ablehnung. „Es ist mir unvorstellbar“, notiert er am 22. September 1941 in sein Kriegstagebuch, „was die eigentliche Realität dort drüben sein mag. Die anderen bedenken nur, daß es der Gegner ist: schlecht, minderwertig, verdammenswert, zur Ausrottung bestimmt. Ich möchte dahinterkommen und weitersehen. Es ist eine Wand dazwischen.“ 

„Auf den Hügeln vor Moskau“ hat einen autobiographischen Handlungskern, der sich anhand von Langes Diarium auf den 7. bis 9. Dezember 1941 datieren läßt. Er betrifft seine Verwundung sowie unmittelbar vorangehende Eindrücke eines gefahrvollen Chaos, die Lange als Soldat einer Pioniereinheit während der verlustreichen Kämpfe am Wolga-Moskwa-Kanal gewonnen hatte.

Geschildert wird also jener kritische Moment der Schlacht um Moskau, als die deutsche Offensive vom russischen Gegenangriff abgelöst wurde. Dem Ich-Erzähler wird dieser kriegs- wie welthistorische Wendepunkt dadurch bewußt, daß er den Auftrag erhält, Minen zu legen, die mit Warnaufschriften für die zurückweichenden Truppen zu versehen sind. Vor allem betrifft es die Zeile: „LETZTER: SCHILD ABREISSEN! Wieso denn? Ich fand keinen Sinn darin. Ich malte und las. Bis es mir einfiel und bis der Schreck mir den Rest des Traums aus dem Kopf blies. LETZTER – das bedeutete: zurück, mitten im Angriff ein jähes Ende, mitten im Schwung ein Nachlassen der Kraft, die uns hochgerissen hatte, die uns den Hunger vergessen ließ, die Kälte, den Tod und alles Elend der Welt. Morgen vielleicht, um die gleiche Zeit wie heute, werden die Sowjets in diesem Haus auf dem Hügel sitzen.“

Es folgen Verwundung und Einweisung des Ich-Erzählers in ein Lazarett, der sich in Fieberträumen schmerzlich das jüngste Geschehen zu deuten sucht. In seinem Gedächtnis passieren die Stunden vor dem Rückzug. Besonders hingezogen fühlte er sich zu ihrer Unterkunft, einem reizvollen Haus, das nun binnen kurzem Opfer von Granaten wurde. Es wird ihm dabei zum Symbol für den absurden Kreislauf von Aufbau und Zerstörung. Stand es zuvor doch für Frieden, Geborgenheit, Hoffnung, Lachen, Tanz und Musik – Zustände und Empfindungen fern der grausamen Vernichtungspragmatik des Krieges, die seinen Teilnehmern nahelegt, Feindverluste ohne Mitgefühl zu registrieren.

Widerspruch zur Kriegspropaganda

In diesem Atmosphärischen liegt die zentrale Differenz, wenn nicht gar ein versteckt appellativer Widerspruch zur Kriegspropaganda. Denn die vom Autor in ihrer Not gezeigten Hausbewohner von Petrowa sind keine gesichtslosen Kontrahenten eines gnadenlosen Ringens, sondern schlicht Mitleid erregende Verstörte und Bedrückte. Man versteht ihre Sprache nicht, sie behindern für Minuten den militärischen Ablauf, sind gerade deshalb lästig. Doch sie eignen sich wenig zu Feindstereotypen, wo doch des Bauern Blick nicht einmal den erwarteten „Haß“ verrät, allenfalls „Trauer“ und ein täppisches Bemühen, zur Verhütung von Schlimmeren das Wohlwollen der Besatzer zu gewinnen.

Darüber hinaus bevölkern weinende Kinder die Unterkunft, „unschuldig“, erschreckt „wie die Kücken“ um die Großmutter als „Glucke“ geschart, „welche die Flügel über ihnen spreizte“. Balalaikas hängen an der Wand und erinnern an Zeiten des Glücks. Nun schlottert Angst in den Räumen angesichts brennender Dörfer ringsum. Und den einquartierten Soldaten fällt es schwer, die Unglücksbotschaft der Evakuierung zu verkünden: 

„‘Fertigmachen!’ rief der Leutnant […]. Die Pioniere fuhren hoch […]. Ich fürchtete den nächsten Augenblick […]. Das, wogegen ich mich sträubte, mußte kommen, die Luft war schon voll von seinem Vorgeschmack. Aber die Kinder sahen ja noch ganz friedlich aus mit ihrer Marzipanfarbe, die ihnen selbst in den Augen glänzte. Und die Großmutter schaukelte an der Wiege weiter, unbeirrbar und voller Torheit. / ‘Beeilung!’ schrie der Leutnant [...] Und sagt dem Panje, er soll seine Siebensachen packen und sich auf den Weg machen. Um 18 Uhr schießt unsere Artillerie Sperrfeuer hierher!’ Slatuk trat gleich vor. Er hatte eine Begabung für Hiobsbotschaften. Mit dicken Lippen schmatzte er sein Russisch auf den Bauern los, aber der hörte nicht auf ihn, er wandte sich an uns alle und dienerte vor uns. […] ‘Ich war in Köln!’ schrie er, er hatte solch eine melodische Stimme, wie man sie bei den Vorsängern gewohnt ist, es erstaunte mich gar nicht, ‘in Köln, in Eydtkuhnen [...] Plennij! Gefangen ...’ Und nun kam ein Schwall russischer Worte, in denen er uns alle beschwor, ihn hierzulassen. Die Großmutter kicherte belustigt und ungläubig vor sich hin und gab der Wiege einen Schwung, daß sie fast bis zur Decke federte, die Kinder grinsten und umarmten sich. Der Leutnant schüttelte den Kopf und wies Slatuk an, den Bauern um jeden Preis fortzuschaffen. Ich sah noch, wie er demütig und gefaßt zusammensank.“ 

Warum das Ganze? Statt einer Antwort fallen Phrasen wie des Leutnants lakonisches „Woyna!“ So ist eben Krieg! „Da kannst du nichts gegen machen!“ Auch ein jüngst gefallener Kamerad wird im Traum vom Ich-Erzähler befragt. Doch dessen Bedürfnis nach tieferer Sinngebung kann er ebensowenig stillen. Was einzig bleibt, ist Erinnerung als solche. Denn daß alles womöglich vielleicht schon morgen vergessen sein werde, wie der letzte Satz der Erzählung unterstellt, ist eher provokativer Appell an den Leser, sich anders zu verhalten. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.