© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Wenn der Glaube an eine höhere Instanz verlorengeht
Kriminalromane im Wandel der Zeit: Wie sich der religiöse Umbruch in der Gesellschaft auf die Literaturgattung auswirkt
Georg Alois Oblinger

Der Eisenbahnfahrplan enthält wenige Höhepunkte psychologischer Komik, und doch wird er nicht fieberhaft an Winterabenden laut vorgelesen. Wenn Kriminalromane überschwenglicher gelesen werden als Fahrpläne, geschieht es sicher, weil sie künstlerischer sind“, schreibt Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) in seiner „Verteidigung“ von Kriminalromanen. In einer Zeit, als viele die Kriminalgeschichte als minderwertige Literaturgattung ansahen, wurde Chesterton ihr Fürsprecher. So hat er selbst zahlreiche Kriminalromane geschrieben, allein 52 Erzählungen um den Priesterdetektiv Father Brown.

Der Kriminalroman als Literaturgattung entstand im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung. Er ähnelt unserem Leben, in dem das Böse immer gegenwärtig ist. Die Kriminalliteratur gewährt uns also einen Blick in die Abgründe, die in jedem Menschen als reale Möglichkeiten schlummern. Am Ende jedoch steht das göttliche Gericht, vor dem alles enthüllt wird. So hat der Kriminalroman eine unübersehbare religiöse Dimension. In einer Gesellschaft, die einen religiösen Wandel durchmacht, hat dies auch Auswirkungen auf die Literatur.

Der Glaube an ein göttliches Gericht und an einen gerechten Richter fand in der Kriminalliteratur seine Entsprechung in Polizisten, Kommissaren und Detektiven, die – früher zumeist – als moralisch integre Personen auftraten und auch durch ihre Lebensführung als Vorbilder galten. Wenn überhaupt ihr Privatleben thematisiert wurde, dann stets in positiver Weise. Bedeutendste Vertreter dieser Gattung waren der von Sir Arthur Conan Doyle erschaffene Detektiv Sherlock Holmes und die von Agatha Christie erdachten Miss Jane Marple und Hercule Poirot.

Schon in den 1930er Jahren traten andere Typen von Kommissaren und Detektiven auf wie beispielsweise Jules Maigret von Georges Simenon und Philip Marlowe von Raymond Chandler. Letzteren kennzeichnet sein legeres Auftreten – vor allem in der Verfilmung mit Humphrey Bogart – und seine häufig unkonventionellen Methoden. Beide haben jedoch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und schonen sich nicht bei der Suche nach dem Täter, auch wenn sie für kleinere Gauner oftmals Verständnis zeigen.

Das klassische Familienbild ist selten geworden

Seit den 1990er Jahren erscheinen die Romane von Donna Leon um den venezianischen Kommissar Guido Brunetti. Ebenso wie Maigret ist er verheiratet und Vater zweier Kinder. Wenn hier auch dem Essen oder den Landschaftsbeschreibungen neben der Tätersuche viel Platz eingeräumt wird, ist noch das klassische Familienbild vorherrschend, das bei den Protagonisten neuerer Kriminalromane fast gänzlich fehlt.

Die Kriminalromane neuen Stils rücken heute das Privatleben der Ermittler in den Vordergrund. Da ist der von dem norwegischen Autor Jo Nesbo erdachte Kommissar Harry Hole, der bei seinen Ermittlungen gern auch illegale Methoden anwendet. Er ist ein harter Alkoholiker, Kettenraucher  und hat wechselnde Frauenbeziehungen.

Der Psychologe Sebastian Bergman ist Protagonist in den Romanen von Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt. Durch den Tod seiner Frau und seiner Tochter leidet er an schweren Depressionen. Er ist ein Frauenheld, der seine Sexualität exzessiv auslebt und sogar mit seiner unehelichen Tochter zu flirten beginnt.

Harry Hole und Sebastian Bergman sind psychische Wracks, die in erster Linie Probleme mit ihrem eigenen Leben haben. Vom ehemaligen Vorbildcharakter eines Kriminalkommissars, gar von dessen Verweis auf einen guten und gerechten Gott, ist hier nichts mehr übriggeblieben. So wie im ARD-„Tatort“ von 51 Kommissaren nur vier verheiratet sind, ist auch im Kriminalroman das klassische Familienleben selten geworden.

Ist das nun Abbild der Wirklichkeit, bei der ebenfalls das traditionelle Familienmodell heute durch alternative Formen ergänzt wird? Oder ist in der Realität nicht vieles doch weitaus intakter? Immerhin wachsen drei von vier Kindern immer noch bei ihren miteinander verheirateten Eltern auf.

Eher ist in der neuen Form des Kriminalromans wohl ein Glaubensverlust erkennbar. Vielfach herrscht heute die Auffassung vor, daß man nicht eindeutig unterscheiden könne, was gut und böse, richtig und falsch ist, da man vielmehr für jede Handlung Verständnis aufbringen soll. Auch wenn Gott im Kriminalroman nie explizit auftauchte, war er doch meist als Sinnbild dargestellt durch den Kommissar oder Detektiv als Recht schaffene Instanz. Eine Gesellschaft ohne den Glauben an ein göttliches Gericht hat nun auch davon Abschied genommen.