© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Opfer ohne Hausnummer
Bombenangriff auf Dresden 1945: Wieviel Flüchtlinge hielten sich in der Elbestadt auf?
Thomas Schäfer

In der nicht enden wollenden Debatte über die tatsächliche Zahl der Opfer infolge der anglo-amerikanischen Luftangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 spielt die Zahl der Flüchtlinge, welche damals in der Elbestadt weilten, eine entscheidende Rolle.

Seit Beginn der sowjetischen Offensiven an der Ostfront hatten Hunderttausende von Zivilisten aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen versucht, sich vor der Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Ein erheblicher Teil dieser Menschen gelangte per Eisenbahn über Dresden nach Westen, weil die Gleisanlagen in Sachsen noch weitgehend intakt waren. Gleichzeitig fanden aber auch rund 500.000 frühere Einwohner Schlesiens längere Aufnahme in der Region. Deshalb ist anzunehmen, daß sich im Februar 1945 eine größere Menge von Flüchtlingen in Dresden befand, als „Elbflorenz“ durch den Abwurf von rund 800.000 Spreng- und Brandbomben in Schutt und Asche sank. 

Zwanzig Züge voller Flüchtlinge aus dem Osten

Genau dieser Umstand wurde jedoch von der städtischerseits einberufenen Historikerkommission unter der Leitung von Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Zweifel gezogen. In dem Teil des Abschlußberichtes des Gremiums, in dem es um die Flüchtlingsfrage ging, urteilte Rüdiger Overmans auf der Basis äußerst kleiner Stichproben aus den verfügbaren zeitgenössischen Auflistungen, „daß nur in ganz geringfügigem Umfang – allenfalls in der Dimension einer niedrigen vierstelligen Zahl – Flüchtlinge vermißt werden“, welche sich zum Zeitpunkt der Angriffe in Dresden aufgehalten haben könnten. Historiker, die wie Overmans von extrem wenigen Opfern aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ausgehen, argumentieren meist so: Zum einen habe es in Dresden eine Zuzugssperre gegeben, seit die Stadt am 1. Januar 1945 zum „Festungsbereich“ erklärt worden war, zum anderen seien die Evakuierungszüge immer sehr schnell durch die Elbmetropole geschleust worden. Und von denjenigen, die zumindest die Existenz von größeren Flüchtlingskontingenten in Dresden zugestehen wollen, gehen viele davon aus, daß sich die Aufnahmelager an der nicht bombardierten Peripherie der Stadt befunden hätten. Allerdings sprechen die Tatsachen und zahlreiche Berichte von Augenzeugen eine ganz andere Sprache.

So kamen die ersten Flüchtlinge keineswegs erst Anfang 1945 nach Dresden, sondern bereits im August 1944 – hierbei handelte es sich um Deutsche vom Balkan. Und sie lebten zweifellos auch in Sammelunterkünften innerhalb der Stadt. Darüber hinaus waren zahlreiche der neu angekommenen Zivilisten aus Schlesien und den anderen Kriegsgebieten zentrumsnah in privaten Wohnhäusern einquartiert worden, wie beispielsweise dem mit der Adresse Bürgerwiese 25. Hiervon berichtete unter anderem die bekannte Tänzerin Gret Palucca. Der Verbleib vieler Flüchtlinge in Dresden resultierte daraus, daß sie nach den Strapazen der letzten Wochen zu krank oder zu schwach zur Weiterreise waren.

Ebenso kampierten größere Gruppen von Schlesiern, die sich mit eigenen Gespannen nach Dresden durchgeschlagen hatten, am Rande des Großen Gartens und im Bereich des Ausstellungsgeländes sowie der Elbwiesen. Andere gestrandete Flüchtlinge wiederum suchten unter den Unterführungen unweit der drei größeren Bahnhöfe Dresdens Schutz. Viele Evakuierungszüge waren nämlich nur bis Dresden-Hauptbahnhof, Dresden-Neustadt oder Dresden-Friedrichstadt gelangt und dann dort liegengeblieben. Denn es mangelte an Lokomotiven – die Transporte an die Front gingen vor. Laut Aussage des Zeitzeugen Hans-Joachim Droll steckten zu Beginn der Luftangriffe vom Februar 1945 um die zwanzig Züge voller Flüchtlinge aus dem Osten in Dresden fest.

Diese fand man später komplett zerstört und ausgebrannt vor, was wenig verwundert, da die Bahnhöfe zu den bevorzugten Angriffszielen gezählt hatten. Über die große Zahl von Leichen dort legte beispielsweise der Luftkriegshistoriker Götz Bergander, der 1945 selbst vor Ort gewesen war, Zeugnis ab. Und der Mitarbeiter der städtischen Vermißtennachweiszentrale Hanns Voigt bezifferte die Gesamtzahl der toten Zivilisten alleine im Bereich des Hauptbahnhofes auf 7.000 bis 10.000.

Außerdem wären da noch die Flüchtlinge im Großen Garten und auf den anderen Freiflächen innerhalb der Stadt. Während der zweiten Angriffswelle am frühen Morgen des 14. Februar 1945 lagen auch diese Areale ohne jedwede wirtschaftliche oder militärische Bedeutung im Bombenhagel der Royal Air Force. Wie unschwer nachzuvollziehen ist, hatten die dort weilenden Menschen aufgrund des Fehlens von Luftschutzkellern und ähnlichen Einrichtungen kaum eine Überlebenschance.

Sehr viel mehr als nur ein paar hundert Flüchtlinge

Aus all dem läßt sich logisch schlußfolgern, daß in Dresden mehr als nur ein wenige Tausend Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten getötet worden sein müssen, weswegen die von der Müllerschen Historikerkommission genannte und seither als „endgültig“ gepriesene Gesamtzahl der Bombentoten vom 13./14. Februar 1945 von 25.000 kaum zutreffend sein kann. Andererseits waren aber wohl auch nicht „Hunderttausende“ Flüchtlinge dem Angriff auf Dresden zum Opfer gefallen. Dies ergibt sich schon alleine aus dem Umstand, daß die zivilen Kriegs- und Vertreibungsverluste unter der Einwohnerschaft Schlesiens, welcher höchstwahrscheinlich die meisten der in Dresden ums Leben gekommenen Flüchtlinge entstammten, bei insgesamt rund 490.000 Toten lagen – so jedenfalls die weitgehend seriös anmutende Schätzung des Statistischen Bundesamtes vom Oktober 1956 auf der Basis von gerichtlichen Todeserklärungen und anderen Dokumenten.