© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Am Rande des Appeasements
Zwei Bände offenbaren Zukunft und Mißstände der Strategien deutscher Außenpolitik
Peter Seidel

Außenpolitische Ratlosigkeit und verdruckstes „Weiter so“ sind die eingefleischten Reaktionen in Deutschland seit der Krimkrise 2014. Dies wird auch als Strategiedefizit beschrieben, und unterschiedlichste Disziplinen wie Friedensforschung, konventionelle sicherheitspolitische Forschung oder „wissenschaftliche Strategielehre“ arbeiten jeweils auf ihre Weise daran. 

Strategielehre ist das jüngste Kind außenpolitischer Politikbetrachtung mit dem Ziel, „aus der militärischen Führungslehre Grundprinzipien allgemein-strategischen Denkens zu abstrahieren“.  Sie wird getragen von der Wiener Landesverteidigungsakademie, die nun schon im dritten Jahr Strategie-Konferenzen ausrichtet, um vornehmlich eine vom deutschen Sprachraum ausgehende internationale Strategieentwicklung zu etablieren. Interessant ist vielleicht, daß sich die Bundessicherheitsakademie in Berlin von diesem Projekt fernhält. 

Der von den Wienern jetzt vorgelegte Tagungsband mit dem Untertitel „Strategie neu denken“ besticht nicht zuletzt durch seine kritische Auseinandersetzung mit den beispielsweise im deutschen Verteidigungsweißbuch 2016 breit propagierten modischen Schlagworten wie Resilienz, Narrativ oder Hybridizität, dem diesjährigen Schwerpunkt der Tagung. Dabei ist man sich weitgehend einig, daß es sich hier vor allem um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt, und Wulf Lapins kritisiert zu Recht, „bei solchen Fake-News-Narrativen die Diskussion zu framen – den Deutungsrahmen vorzugeben – um Agenda-Setting zu betreiben“. Eine beliebte Methode in postfaktischen Zeiten – gerade auch für Regierungen.  

Besonders interessant sind Aufsätze, ob „Europa strategisch handeln kann“, zur „Rückkehr der Geopolitik in die internationalen Beziehungen“ oder zu „Strategien der Wirtschaftskriegsführung“. Hier schneidet Deutschland schlecht ab und wird des öfteren bereits am Rande des Appeasements verortet. Beispielsweise in dem famosen Beitrag der norwegischen Staatssekretärin Janne Haaland Matlary: Obwohl Deutschland eigentlich eine Schlüsselrolle in Europa spielen müßte, pflege es das „Mantra, daß es keine militärischen Lösungen“ gebe, verkenne, daß „ökonomische Macht militärische nicht ersetzen“ könne und verzeichne eine eigentümliche Übereinstimmung solcher Ideen „in Wirtschaftskreisen und der politischen Linken“, die langfristig sogar die Westbindung Deutschlands gefährden könne. Insgesamt ist die Tagung aber zu sehr mit der Abwehr regierungsamtlicher Deutungsvorgaben beschäftigt und zu wenig mit solch aktuellen Fragen wie den Initiativen Emmanuel Macrons zu Europa und zur Nato, der Infragestellung der amerikanischen Nukleargarantie durch den US-Präsidenten oder vagen Ideen wie der von einer „EU-Armee“. 

Dies gilt auch für den Zweig der Politikbetrachtung, der sich seit den siebziger Jahren mit dem schönen Namen „Friedensforschung“ schmückt. Hier ist einer der jüngsten Buchtitel besonders bezeichnend: „Schießen wie die anderen?“ lautet er, und er ist typisch für die Krise dieses etablierten Bereiches deutscher Politikwissenschaft wie vielleicht für die Krise deutscher Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt. 

Denn „die anderen“, das sind die, die nicht wie die Deutschen mit dem Grundgesetz unter dem Arm internationale Politik vornehmlich kommentieren, sondern als Akteure aktiv Diplomatie „mit Zuckerbrot und Peitsche“ betreiben, wie Henry Kissinger das formulierte. Dafür ist man sich in Berlin aber nach wie vor viel zu schade, egal ob Politiker oder Friedensforscher.   

Ablösung des Bipolarismus durch den Multipolarismus

Ganz wohl ist den Herausgebern dabei allerdings nicht, die ja auch keinen Ausblick, sondern lediglich einen Rückblick auf das Schaffen des langjährigen kommissarischen Leiters des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Reinhard Mutz, von 1983 bis 2012 geben. Dabei symbolisiert Mutz, der auch als Gegner neomarxistischer Friedensforscher sein Amt gestaltete, eher das Ende einer weltgeschichtlichen Epoche als den Anfang einer neuen, da die Ablösung des Bipolarismus durch den Multipolarismus heute offenkundig die Maßstäbe des Kalten Krieges verändert hat. 

Aus jener Zeit bietet der Band jedoch aufschlußreiche Beiträge zu Fragen wie der nach dem Überleben angesichts der nuklearen Bedrohung im geteilten  Deutschland oder der wechselseitig gesicherten möglichen Zerstörung durch die beiden Supermächte. Mutz gibt dabei keineswegs den Kopf an der Nato-Kleiderkammer ab, kritisiert völlig zu Recht die oft unausgegorene deutsche Außenpolitik unabhängig von der Farbe der Regierungskoalition insbesondere nach der Wiedervereinigung. Er findet andererseits aber auch kein tragendes  Verhältnis zum Einsatz militärischer Macht in der heutigen Zeit globaler Unordnung. Dies gilt leider auch für seinen späten Versuch „Frieden schaffen – auch mit Waffen?“ vom Ende der neunziger Jahre, der ein Umdenken immerhin anzudeuten schien. 

Ähnlich wie bei der traditionellen, Nato-zentrierten sicherheitspolitischen Forschung, die mehr oder weniger alles gut findet, was in Brüssel beschlossen wird, fehlt auch bei der Friedensforschung bundesdeutscher Prägung die Zukunftsorientierung. Sie ist von ihrer ganzen Genese her wohl auch kaum noch zu erwarten, und so könnte sie eines Tages das Schicksal der zu Recht untergegangenen systemkonformen DDR-Forschung teilen. Ob allerdings Lösungen für deutsche und europäische Strategiedefizite eines Tages vom Wiener Strategieforum kommen, bleibt heute noch offen – positive Ansätze sind dazu jedenfalls durchaus erkennbar. 

Daß jedoch auch strategisches Denken allein noch keine grundsätzlichen Defizite beheben kann, zeigte beispielhaft die Wortmeldung Marion Gräfin Dönhoffs im Januar 1990. Den ewig auf die Vergangenheit Fixierten hielt sie vor: „Sie spüren nicht das unterirdische Beben, die subkutane Strömung des geschichtlichen Wandels. Von Geschichte wissen sie ohnehin wenig, und von strategischem Denken halten sie schon gar nichts, weil es ihnen nur auf die Wahlperiode ankommt, so daß Denken und Handeln allein auf die Taktik beschränkt sind.“ Allerdings bezog sich die einflußreiche Zeit-Herausgeberin dabei nicht auf die heranbrechende Stunde der Wiedervereinigung; der Titel ihres Artikels wenige Wochen vor den ersten freien Wahlen in der DDR lautete vielmehr „Jetzt heißen die Probleme: Umwelt und Dritte Welt“. Mit eben dieser Einstellung sind dann die Grünen aus dem ersten gesamtdeutschen Bundestag geflogen. Dies zeigt: Die Verleugnung nationaler Interessen hat ihre Grenzen, deren Überschreitung das Publikum irgendwann nicht mehr goutiert. Da helfen dann auch Strategie und Taktik nicht mehr. 

Wolfgang Peischel (Hrsg.): Wiener Strategie-Konferenz 2018. Strategie neu denken. Miles Verlag, Berlin 2019, gebunden, 592 Seiten, 39,80 Euro

Sabine Jaberg, Reinhard Mutz: „Schießen wie die anderen?“ NomosVerlag, Baden-Baden 2019, broschiert, 441 Seiten, 89 Euro