© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

„Wir verbrennen euer System“
Siemens: Klimapaniker und kritische Aktionäre verpaßten Konzernchef Josef Käser lediglich verbale Kratzer
Billy Six

Kleiner Aufruhr vor der Münchner Olympiahalle vorige Woche: Demonstranten skandieren „Nie, nie wieder Kohle!“, Rhythmik und Lautstärke erinnern an Antifa-Aufmärsche. Eher wenig Medientaugliche mit Tagesfreizeit halten handbemalte Schilder mit Parolen wie „Siemens enteignen!“, „Kapitalisten enteignen“ oder „Verantwortliche: Wir verbrennen euer System“ in die Kameras. Bei der 54. Hauptversammlung der Siemens AG steht daher für die 6.500 angemeldeten Aktionäre und ihre Vertreter vorsorglich bayerischer Polizeischutz bereit. Dutzende Anhänger von „Fridays for Future“ (FFF) stehen vorm Eingang. Auch einige Greenpeace-Leute („Planet Earth first“) und vereinzelte Aktivisten mit „Extinction Rebellion“-Fahnen sind zu sehen. Über den Dachverband der kritischen Aktionäre sind sogar Klimapaniker legal in den Saal gelangt.

Gut die Hälfte der 63 Redebeiträge setzt sich so kritisch mit der Steinkohlemine des indischen Adani-Konzerns in Australien auseinander, teils mit Drohungen, inszeniertem Applaus und Störrufen. Sicherheitskräfte müssen zwei Punks vom Rednerpult wegtragen. Es geht um einen 18-Millionen-Euro-Auftrag für die Zugsignaltechnik vom Tagebau zum Ausfuhrhafen. Viele Anteilseigner im Saal wirken verunsichert. Siemens-Chef Josef Käser, der seit einem US-Aufenthalt „Joe Kaeser“ genannt werden will, geht auf Abstand: Nochmal, so deutet er an, würde Siemens auf ein derartiges Geschäft nicht eingehen. Eine Kündigung schließt er aber aus.

Eigene CO2-Emissionen um 41 Prozent gesunken?

Die offenen Angriffe auf den Ruf des 1847 in Berlin gegründeten Technologieunternehmens mit aktuell 385.000 Mitarbeitern in mehr als 200 Ländern und Regionen sind für den Niederbayern Käser „schon fast grotesk“. Seit 2014 seien die Kohlendioxid-Emissionen des Konzerns um 41 Prozent gesunken – und allein 2019 habe Siemens 637 Millionen Tonnen des „Treibhausgases“ bei den Kunden reduziert. „Das entspricht im übrigen 80 Prozent des gesamten jährlichen CO2-Ausstoßes in Deutschland“, rühmt sich der Vorstandschef. Daß er der 23jährigen FFF-Aktivistin und Heinrich-Böll-Stipendiatin Luisa Neubauer einen Sitz in einem Aufsichtsgremium für Umweltfragen – in vielen Medien fälschlich als „Aufsichtsrat“ bezeichnet – anbot, sorgt für Kritik bei einigen der konventionellen Anleger.

Für den seit 2013 amtierenden Konzernchef, der bald sein 40jähriges Siemens-Jubiläum feiert, ist die Marschrichtung klar: Wer sich dem Dialog verweigere, „verliert das moralische Recht“, das „Geschäftsmodell Aktivismus“ weiter zu betreiben. Luisa Neubauer, die das Siemens-Angebot abgelehnt hatte, ist dennoch in der geheizten Olympiahalle anwesend – ausnahmsweise schweigend, die Geographiestudentin twitterte nur. Als das Grünen-Mitglied mitbekam, daß in Erfurt Thomas Kemmerich zu Ministerpräsidenten gewählt wurde, war Australien aber vergessen: „Ich bin entsetzt, nur nicht überrascht. Tragischerweise.“

Der frühere EU-Abgeordnete Hans-Olaf Henkel wird von Protestlern im Gebäude belästigt – dessen kurze AfD-Mitgliedschaft ist auch hier unvergessen. Ein Redner kritisiert „Rassismus“ im Siemens-Vorstand, der – hauptsächlich weiße Männer – nicht die Gesellschaft in Deutschland abbilde. Daß ausgerechnet Siemens angegriffen wird, verwundert: Die Kanaderin Maria Ferraro ist beispielsweise Finanzvorständin und seit Dezember 2019 zudem Chief Diversity Officer von Siemens. Käser attackiert regelmäßig die AfD und twitterte etwa zu Alice Weidels Einwanderungskritik: „Lieber ‘Kopftuch-Mädel’ als ‘Bund Deutscher Mädel’“. Der Vorstandschef glaubt an den menschengemachten Klimawandel, seit fünf Jahren verfolgt er angeblich das Ziel, Siemens bis 2030 „klimaneutral“ zu machen.

Betriebswirtschaftliches „Ökosystem“ begründen

In der Selbstdarstellung zeigt sich der Konzern gern mit Dunkelhäutigen oder Regenbogenfahnen. „Wir wollen einen lösungsorientierten Dialog mit allen Interessensgruppen“, sagt Käser. Interessenberechtigte seien Kunden, Mitarbeiter, Anteilseigner, „aber natürlich auch die Gesellschaft“. Die Zeiten, nur noch Gewinn zu erwirtschaften, „sind vorbei“, vielmehr seien die 17 UN-Nachhaltigkeitskriterien maßgebend. Käsers Ankündigung, bis 2025 eine Milliarde Euro extra für Nachhaltigkeitsprojekte zur Verfügung zu stellen, entlockt den Aktionären nur verhaltenen Applaus.

Für „die vierte industrielle Revolution“, „die wohl größte Transformation in unserer 172jährigen Geschichte“ sollten „neue Technologien“ entwickelt werden: „Grüner Wasserstoff“, künstliche Intelligenz (KI), 5G-Mobilfunk (JF 6/19), Energiespeichertechnologien. 5,7 Milliarden Euro investierte Siemens im letzten Jahr für Forschung und Entwicklung, 40 Prozent mehr als 2013.

Dennoch: „Niemand ist zufrieden“, schreibt die FAZ. Institutionelle Anleger kritisieren mangelnde Erträge. Das Manager-Magazin moniert, der Vorstand habe in seiner Präsentation eine Wertsteigerung der Aktie von 82 Prozent nur durch einen Statistik-Trick auf die Leinwand projizieren können: Ausgehend vom 78,62 -Euro-Kurs des 25. Juli 2013 – dem Tag einer verheerenden Gewinnwarnung – und abgeschlossen mit einer Notierung der Jahresendrallye – 116,54 Euro – vom 30. Dezember 2019. „Das sind real existente Fakten“, rechtfertigt sich Käser. Immerhin: In seiner Amtszeit stieg die Dividende stetig – von drei auf 3,90 Euro je Anteilsschein.

Den Vorwurf, Siemens zerschlagen zu wollen, weist er zurück: Die Ausgliederung der Energiesparte solle ein neues betriebswirtschaftliches „Ökosystem“ begründen. Mit der Medizintechnik sei ab 2015 ähnlich verfahren worden. Siemens Healthineers habe sich „als eigenständiger, fokussierter Spezialist deutlich besser entwickeln können als im Konglomerat“. Mit Infineon, Gigaset oder Osram sieht es aber anders aus.

Dem „neuen industriell geprägten Siemens“ bliebe künftig die Digitalindustrie, selbstorganisierende Produktion und Mobilität. Jüngst wurden so eine neue IT-Plattform zur Vernetzung der 122 VW-Werke eingerichtet und neue Züge für die russische Eisenbahn und die Londoner U-Bahn ausgeliefert.

Den Rekordumsatz von 87 Milliarden Euro, der 2001 und 2006 erreicht worden war, will Siemens halten. Ob das in abgespeckter Form gelingt, bleibt abzuwarten. Für die Konsequenzen des Ziels, jene in den Entwicklungsländern lebenden „850 Millionen Menschen ohne Strom“ ans Netz zu bringen, wird er sich künftig nicht mehr rechtfertigen müssen. Käser, dessen Vertrag turnusgemäß Anfang 2021 ausläuft, hat seine wahrscheinlich schwerste und möglicherweise letzte Hauptversammlung mit verbalen Kratzern überstanden: 94,3 Prozent stimmten für seine Entlastung.

 new.siemens.com

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