© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Wolfgang Harich: Die DDR vor Nietzsche retten
Hüter marxistischer Ideale
(dg)

Nach dem 8. Mai 1945 begann für den Deserteur und kurzzeitigen Widerstandskämpfer Wolfgang Harich ein kometenhafter Aufstieg. Allerdings nicht im eigenen, bildungsbürgerlichen Milieu, dem der 1923 in Königsberg geborene Enkel des ostpreußischen Pressezaren Alexander Wyneken entstammte, sondern beim sozialistischen Klassenfeind. Harich schloß sich der „Gruppe Ulbricht“ an, rückte 1946 zum einzigen deutschen Redakteur der sowjetisch lizensierten Täglichen Rundschau auf und galt in den frühen Fünfzigern als Dozent an der HU Berlin wie als Chefredakteur der streng marxistischen Deutschen Zeitschrift für Philosophie als die intellektuell überragende Nachwuchskraft in den Reihen der SED-Ideologen.

Bis er 1956 mit dem Ungarn-Aufstand sympathisierte und eine ähnliche „Entstalinisierung“ auch für die DDR forderte. Harich bezahlte das mit acht Jahren im Zuchthaus Bautzen. Dem Entlassenen machte die Stasi klar, fortan würden seine Bücher in der DDR als „nicht hilfreich“ (Merkel) eingestuft. Der derart unter Quarantäne gestellte, trotzdem regimetreue Autor wagte seitdem nur noch einen öffentlichen Vorstoß, als er sich in den 1980ern gegen die äußerst moderate „Nietzsche-Renaissance“ in der DDR stemmte. Mit vier bösen Briefen an Stephan Hermlin, Nietzsche-Apologet mit besten Kontakten zum Politbüro, dokumentiert Andreas Heyer, wie im Streit um Nietzsche der „intellektuelle Gründungskonsens der DDR“ zu zerbröckeln begann, den Don Quichote Harich als „Hüter der marxistischen Ideale“ gegen Hermlin, den SED-Chefideologen Kurt Hager und letztlich Erich Honecker verteidigen wollte (Sinn und Form, 1/2020). 


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