© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Als die Denunziation zum Volkssport wurde
Deutsche Nachkriegsjahre: Zwei hohe Kulturfunktionäre sollen ihre NS-Verstrickung verschleiert haben
Eberhard Straub

Ein wahrhafter und wehrhafter deutscher Demokrat ist mittlerweile ein unermüdlicher Widerstandskämpfer und dauernd im Einsatz. Was seine Groß- und Urgroßeltern versäumten, den 30. Januar 1933 zu verhindern und damit die Machtübernahme Adolf Hitlers, ist seine Lebensaufgabe. Der Kampf gegen den Nationalsozialismus verleiht seinem Leben erst Sinn, er ist die Sinngebung des Sinnlosen. Der Widerstand gegen Adolf Hitler und die NSDAP wird daher immer heftiger. Denn der „Führer und Volkskanzler“ und seine Bewegung sind nicht tot. Sie sind gegenwärtig und gefährden den freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab, woran die Bundesrepublikaner ununterbrochen erinnert werden.

Die Entnazifizierung der Umwelt darf deshalb nicht vernachlässigt werden. Einem anständigen Deutschen kann es nicht zugemutet werden, in einer Straße zu wohnen, die den Namen eines Mannes führte, der nach 1933 nicht sofort emigrierte und sich mit dem System abfand, ja in ihm Karriere machte. Keiner darf es dulden, daß ehemalige Parteigenossen, die nach 1945 in allen möglichen Stellungen das öffentliche Leben und dessen Geist beeinflußten, weiterhin geachtet und nicht verachtet werden. Er muß seine Stimme erheben und mit dem Pathos eines Zolas rufen:  J’accuse! Ich klage an!

Nach dem Krieg erhielt er zunächst ein Berufsverbot 

Nichts gilt daher als so verwerflich wie das Schweigen eines ehedem „Prominenten“ über seine Vergangenheit oder dessen Versuche, das Vergangene den ideologischen Anforderungen  wünschenswerter Demokratisierung nach 1945 anzugleichen. Alfred Bauer, 1911 in Würzburg geboren, wurde nach dem Krieg der erste Direktor der Berliner Filmfestspiele, die er über zwanzig Jahre leitete, ehedem hoch angesehen gerade wegen seiner Fähigkeiten und geistigen Beweglichkeit. Dieser Tage nun wird er einem abermaligen Entnazifizierungsprozeß unterworfen und renazifiziert, unter anderem von der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit (29. Januar). Grund: Bauer sei „ein eifriger SA-Mann“ gewesen. Außerdem wurde er 1942 Referent in der Reichsfilmintendanz und unterhielt Beziehungen zur Ufa, die schrecklicherweise auch auf unterhaltende Weise für nationalsozialistische Gesinnung warb. Ein Unhold also, der sich selbst allerdings nach 1945 als „innerer Widerständler“ begriff, wie viele in der Filmbranche.

Alfred Bauer unterschlug gar nichts zu seiner Vergangenheit. Nach dem Krieg erhielt er zunächst ein Berufsverbot, wurde dann offiziell entnazifiziert und wie die meisten Deutschen als Mitläufer eingestuft. Das sollte genügen – und es hatte genügt. Es ging nicht darum, unentwegt eine Vergangenheit zu bewältigen, über die eine Spruchkammer geurteilt hatte. Alfred Bauer dachte an seine Zukunft und Karriere. Wer sich der SPD annäherte und damit den sich selbst dazu ernannten unbescholtenen Demokraten, brauchte sich im Kulturbetrieb nicht weiter über seinen guten Ruf zu sorgen. Er war unbescholten und saß im richtigen Boot.

Nicht viel anders ist der „Fall“ des 1912 im Weichselland geborenen, 1936 promovierten Kunsthistorikers Werner Haftmann, des nach dem Krieg ersten Direktors der (West-)Berliner Nationalgalerie. Er trat wie so viele junge Akademiker in die NSDAP ein, 1937, an seine  Zukunft im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb denkend. Er war sehr vorsichtig und so klug, nicht politisch als Wichtigtuer aufzufallen. Haftmann lief halt so mit als etwas zweifelhafte Existenz.

Hohe Kommissare des Antifaschismus

Nach 1945 war er weniger zurückhaltend. Er glich sich der vom CIA massiv gewünschten und geförderten Kunstpolitik an, „westliche“ und „demokratische Kunst“ – das heißt abstrakte Malerei und Zwölftonmusik – vor jedem Widerspruch zu sichern. Wer für gegenständliche Malerei, für traditionelle Architektur oder harmonische Musik eintrat, wurde als Reaktionär und unverbesserlicher Nationalsozialist verunglimpft von Feuilletonisten, die den Anschluß an die neue Zeit suchten, die sie sich zehn Jahre früher im großen nationalen Aufbruch erhofften. Er wurde die unfehlbare Autorität – von der documenta in Kassel aus und dann im kämpferischen West-Berlin für ästhetische Verwestlichung und Demokratisierung im innigsten Zusammenhang mit den USA. 

Werner Haftmann war ein gewandter Opportunist, Alfred Bauer ebenfalls. Beide sind – zu Recht – nur noch für die Geschichte und die ideologischen Zwänge Westdeutschlands interessant, rein historische Figuren, die allerdings veranschaulichen, daß der Weg zu öffentlicher Anerkennung – vorgestern, gestern und heute – eine einwandfreie Einstellung und positive Haltung voraussetzt, eben politische Korrektheit je nach den wechselnden Gegebenheiten.

Robert Musil hielt die Haltung des Gewährenlassens  und Zulassens im modernen Interventions- und ideologisch  hoch gerüsteten Gesinnungsstaat für unvermeidlich, da keiner dessen Möglichkeiten und Absichten noch zu überblicken vermag. In einem Essay bemerkte er 1919, daß die Engländer mit ihrer Hungerblockade die Kinder in Mitteleuropa nicht verhungern ließen, sondern nur zuließen, daß sie verhungerten und starben. Das im heutigen Deutschland viel erwähnte und geschmähte Wegschauen, das Zulassen und Gewährenlassen gehört in sämtlichen Systemen zum Alltag, gerade wenn Sanktionen die Verelendung und damit den Tod von unliebsamen Widerstandskämpfern gegen den „Westen“ in Venezuela, im Iran oder im Irak bedeuten. Widerstand gegen den Westen ist verboten und ein krimineller Akt. Widerstand gegen „den Faschismus“ ist allerdings dringend geboten. Wer auch immer „unwestlich“ handelt und sich der „westlichen Wertegemeinschaft“ irgendwo auf der weiten Welt widersetzt, bedarf umfassender Umerziehung. 

Aus dem alliierten Programm der Reeducation, Bevormundung und Kontrolle der Deutschen seit 1945 entwickelten die Deutschen ihre besondere Aufgabe für damals und immerdar als nimmermüde Antifaschisten tatkräftig für die Welterlösung von allen dunklen Mächten heilend zu wirken. Die Deutschen sind der offenkundige antifaschistische Heiland einer erlösungsbedürftigen Welt geworden. Es waren die besiegten und bedingungslos kapitulierenden Karrieristen während des Nationalsozialismus, die zuvor die Nationalsozialisten gewähren ließen und als ab 1945 Entnazifizierte ihrer Sendung bewußt wurden, als Befreite und der Fesseln des Irrtums ledig, hohe Kommissare des Antifaschismus zu werden. Der „Antifaschismus“ ist die Erfindung von früher mehr oder weniger fest überzeugten „Faschisten“.  Stalin und die Sowjetunion – siegreich auch auf ideologischen Schlachtfeldern – haben den Faschismus, zu dem für sie  auch die Sozialdemokraten gehörten als „Sozialfaschisten“, zum Mysterium des Bösen erhoben, zur satanischen Macht des Bösen, gegen die alle Guten als Antifaschisten aufstehen müssen. 

Eine Lüge wurde zum Fundament der Republik

Die besiegten und enttäuschten Nationalsozialisten waren Gläubige, die die auch von Reichsjugendführer Baldur von Schirach verwendete Mahnung beherzigten: „Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben / an Deines Volkes Auferstehen“. 1945 war alles in Scherben gefallen. Die jungen deutschen Männer, denen Hitler den Marschallstab in den Tornister gelegt hatte, rieben sich kurz verwundert die Augen und sahen rasch, welche Chancen ihnen der Antifaschismus bot. Die großen Antifaschisten in der Politik, im Journalismus, in der Universität, in der evangelischen Kirche und schließlich überall von der Bäckerinnung bis zu Swingerclubs, die mit schwulen Spielgefährten für frisch, frei, frohe antifaschistische Sinnenlust sorgen, hatten dem Führer vertraut, was sie jetzt allen „Unverbesserlichen“ vorwarfen. Es lohnt sich kaum, die heute längst vergessenen Namen der entnazifizierten „Antifaschisten“ zu erwähnen. Es genügt daran zu erinnern, daß die Antifaschisten es waren, die als Altnazis andere Altnazis als Altnazis verdächtigten. Die Denunziation und die Verleumdung wurden zum Volkssport jener, die von ihren Unzulänglichkeiten ablenken wollten.

Die Bundesrepublik ist nicht von Widerstandskämpfern und Antifaschisten gegründet worden, obschon sich viele unter ihnen als Opfer ausgaben oder beteuerten, ununterbrochen inneren Widerstand geleistet zu haben. Widerstand setzt Mitarbeit voraus. Nur wer zum System gehört, wer Zugang zu den Machthabern hat, kann etwas verändern oder verhindern. Diese alte Erfahrung wurde moralisch-empört außer Kraft gesetzt. Die Lüge wurde zum Fundament dieser Republik von „Antifaschisten“; sie ist es geblieben. Der Rufmord ist mittlerweile zu einer Ehrensache derer geworden, die nicht schweigen dürfen und können. Denunziation gilt indessen als sittlicher Akt der Aufklärung. Der Antifaschismus bot mannigfache Mittel, sich unter den neuen Umständen lautstark gleichzuschalten und andere in den Hintergrund zu drängen und auszuschalten. Daran hat sich nichts geändert. 

Die 70. Berlinale findet vom 20. Februar bis zum 1. März statt. Im Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären treten insgesamt 18 Filme an. Das vollständige Programm kann im Netz eingesehen werden.

 www.berlinale.de