© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/20 / 14. Februar 2020

Tödliches Drama an der Oder
Fast sieben Wochen wird Glogau 1945 verteidigt / Danach ist die niederschlesische Stadt nur noch ein Trümmerfeld
Paul Leonhard

Es ist ein zusammengewürfelter Haufen, den der Kompaniechef auf dem Rasen vor der Festungsmauer hat antreten lassen. Luftwaffe, Fallschirmjäger, Infanterie. Hinter ihnen ragt das notdürftig getarnte Rohr eines Panzerabwehrgeschützes hervor. Drei Soldaten stehen mit Blickrichtung auf ihre Kameraden stramm. Sie werden für Tapferkeit ausgezeichnet. Ein Offizier angelt die Orden aus einer Holzkiste.

Die Szene stellt den Endkampf um die Festung Glogau, der 1945 fast sieben Wochen lang dauerte, vom 11. Februar bis zum 1. April, aus der Sicht polnischer Hobbyhistoriker dar. Seit Jahren finden sie Gefallen daran, die damaligen Gefechte alljährlich möglichst detailgenau nachzustellen. Berühungsängste haben sie nicht, polnische Einheiten waren nicht beteiligt, als die niederschlesische Oderstadt zu neunzig Prozent in Trümmer sank. Adolf Hitler persönlich hatte die ehemalige preußische Festungsstadt Ende1944 zum „Festen Platz“ erklärt. Für den Stadtkommandanten bedeutete das, daß er den Ort „bis zum Äußersten“ zu verteidigen hatte, selbst wenn das übrige Gebiet von eigenen Truppen geräumt wurde.

Anfang 1945 ist Glogau ein wichtiger Brückenkopf auf dem Ostufer der Oder, Durchzugsort für zurückflutende Einheiten. Die 341. Infanteriedivision verteidigt den Oderübergang hartnäckig gegen die nachdrängenden Sowjets. Panzergeneral Walther Nehring schreibt in seinen Erinnerungen von „schönen Abwehrerfolgen“.

Derweil werden in der Stadt Panzergräben und Feldstellungen ausgehoben. Die drei Kasernen sollen den Schwerpunkt bei der Verteidigung bilden, deren innerer Verteidigungsring entlang der alten Festungsanlagen verläuft. Noch glaubt man, daß es gelingen könnte, die Angreifer an der Oder aufzuhalten. Dann aber befiehlt Hitler, daß das am Ostufer kämpfende Panzerkorps „Großdeutschland“ um 180 Grad nach Süden eindrehen und gleichzeitig auf dem West- und Ostufer kämpfen soll. Was auf der Karte im Führerbunker theoretisch richtig erschien, war „praktisch aufgrund der gegebenen Verhältnisse nicht durchführbar“, schreibt Nehring 1949 an die Wochenzeitung Christ und Welt, die ihn um seine Erinnerungen an die Kämpfe im Raum von Glogau gebeten hatte.

Statt die „praktische Lösung des fronterfahrenen Truppenführers“ umzusetzen und das Korps über die Oder zu setzen und es von dort gegen den sowjetischen Brückenkopf im nahen Steinau zu führen, führt Hitlers Befehl dazu, daß es eingeschlossen wird und die Russen durchbrechen. Der Brückenkopf Glogau wird aufgegeben, der Westrand der seit 11. Februar eingeschlossenen Stadt zur Frontlinie. Denn der Führerbefehl, Glogau als „Festung“ zu verteidigen, besteht fort.

Stadtkommandant Oberst Jonas Graf zu Eulenburg, ein Ostpreuße, läßt Barrikaden, Laufgräben und unterirdische Verbindungswege über Kellerdurchbrüche anlegen. Zur Verteidigung stehen ihm 6.000 bis 7.000 Soldaten zur Verfügung. Nur 1.500 gelten laut Kriegstagebuch der Wehrmacht als „grabensicher“, also als fronterfahren.

Die Angreifer verfügen über 30.000 Mann mit 62 Panzern, starker Artillerie und Granatwerfern, Bomben- und Jagdfliegern. Als verhängnisvoll erweist sich, daß den Russen die Munitionslager bei den Gurkauer Höhen in die Hände gefallen sind. Sie werden genutzt, um die Stadt in Brand zu schießen. Da es keine Luftabwehr gibt, wird tagsüber bombardiert und von der eroberten Bismarckhöhe aus die Wirkung der Angriffe beobachtet.

Das Rückgrat der Verteidigung bilden das Pionier-Ersatzbataillon 213 und ein Lehrgang Reserveoffiziersbewerber. Während die Versorgung mit Lebensmitteln durch mehrere Verpflegungslager gesichert ist, fehlt es an schweren Waffen. Panzer werden mit Nahkampfwaffen bekämpft. Der Widerstand ist so stark, daß die Sowjets schließlich ihre 197. Schützendivision heranführen.

Am 15. März fällt die zerstörte Lüttich-Kaserne. Die Stadt wird jetzt innerhalb des inneren Festungsgürtels verteidigt. Munitionslager fliegen in die Luft. Die zentrale Wasserversorgung fällt am 19. März durch Artilleriebeschuß aus. Am 30. März kämpfen sich die Russen zur Oder durch und teilen Glogau in einen östlichen und einen westlichen Verteidigungsabschnitt. Einen Tag später ist auch der letzte Befehlsstand des Festungskommandanten eingeschlossen. Per Funkspruch gibt das Oberkommando der Wehrmacht die Festung zur Kapitulation frei. Doch Kommandant zu Eulenburg kapituliert nicht, sondern löst seine Einheiten auf, entbindet die Soldaten von ihrem Eid. Während ein Teil sich den Sowjets ergibt, versuchen sich mehrere Gruppen zu den deutschen Linien durchzuschlagen. Wie die meisten der Soldaten findet auch Ritterkreuzträger Eulenburg dabei den Tod.

Die Kämpfe um Glogau werden im Wehrmachtsbericht ab dem 28. Januar 1945 insgesamt 17mal erwähnt, zum letztenmal am 3. April: „Auf engsten Raum zusammengedrängt, wurden die tapferen Verteidiger nach Verschuß der letzten Munition vom Gegner überwältigt.“ Im Kriegstagebuch des OKW wird für den 1. April festgehalten: „Ostfront: Russische Truppen nehmen Sopron, stehen südöstlich von Wien. Konjew nimmt die Festung Glogau an der Oder.“ General Nehring schreibt 1949 über Glogau: „Für uns war es ein unnötiges Opfer – für den Feind ein verhältnismäßig billiger Triumph.“

Nach der Eroberung der zerstörten Stadt wird diese entsprechend sowjetischer Militärtradition für eine Woche zur Plünderung freigegeben. Für die verbliebenen mehr als 2.000 Zivilisten, insbesondere die weiblichen, eine unvorstellbare Zeit der Gewalt.

Im heute polnischen Glogów wären die deutschen Opfer dieser Kämpfe längst vergessen, würden nicht mitunter Massengräber entdeckt. Erst Mitte Mai 2019 werden am Stadtwall der Altstadt mehr als 19 Gefallene exhumiert. Dank ihrer Erkennungsmarken können die Toten identifiziert und Angehörige informiert werden, fast 75 Jahre nach Kriegsende.