© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Aktiv und aggressiv?
Verfassungsschutz: Erstmals seit Jahren sollen wieder Parlamentarier beobachtet werden / Mehrere AfD-Politiker betroffen / Bundesamt schweigt offiziell
Christian Vollradt

Die Zeit spricht von einer Zäsur. Laut Recherche der Hamburger Wochenzeitung haben das Bundesamt sowie Landesämter für Verfassungsschutz erstmals seit über fünf Jahren begonnen, deutsche Parlamentarier zu beobachten. Informationen über sie sollen demnach sowohl in der allgemeinen Verfassungsschutzdatei als auch in eigens dafür angelegten Personenakten gespeichert werden. Das Blatt spricht von einer Handvoll „besonders radikaler AfD-Abgeordneter“ und nennt die Namen dreier Landespolitiker: Thüringens Landes- und Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke, seinen Brandenburger Kollegen Andreas Kalbitz sowie den Landtagsabgeordneten Hans-Thomas Tillschneider aus Sachsen-Anhalt. 

Vor gut einem Jahr, im Januar 2019, hatte der Inlandsnachrichtendienst bekanntgemacht, ihm lägen noch nicht hinreichend verdichtete „Verdachtssplitter“ über „erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgerichtete Politik der AfD“ vor. Man stufe die Partei daher als sogenannten „Prüffall“ ein. Das von der AfD angerufene Verwaltungsgericht in Köln untersagte daraufhin im Februar per einstweiliger Anordnung der Behörde, die Partei weiterhin öffentlich als „Prüffall“ zu bezeichnen. 

Ramelows Beobachtung  war nicht gerechtfertigt

Bei der Jungen Alternative (JA) und der nicht fest umrissenen innerparteilichen Gruppierung „Flügel“ liegen nach Einschätzung der Verfassungsschützer „stark verdichtete Anhaltspunkte dafür vor, daß es sich bei ihr um eine extremistische Bestrebung handelt“. Die JA und der „Flügel“ werden als „Verdachtsfall“ geführt. Beide können daher auch – anders als die Gesamtpartei – „bei Bedarf auch mit nachrichtendienstlichen Methoden“ beobachtet werden. Dies können beispielsweise abgehörte Telefonate oder mitgelesene E-Mails sein. Ergebnisse solcher nachrichtendienstlicher Überwachung können dann in den Personenakten der Betreffenden festgehalten werden. Mittlerweile hat die AfD Klage gegen die Einstufungen von JA und Flügel eingereicht (JF 4/20).

Die neue Entwicklung betrifft offenbar nicht nur AfD-Abgeordnete, sondern auch solche der Linkspartei, deren Überwachung laut Medienberichten ebenfalls vom Verfassungsschutz erwogen werde. Dies war im Jahr 2014 vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) beendet worden. Der Grund: Das Bundesverfassungsgericht hatte im September 2013 entschieden, daß die Beobachtung von Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes „einen Eingriff in das freie Mandat“ darstellt, der „strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit“ unterliege. Geklagt gegen seine Beobachtung hatte Linken-Politiker Bodo Ramelow – mit seinem Rechtsbeistand Dietrich Murswiek, also jenem Staatsrechtsprofessor, der aktuell die AfD bei ihrem Vorgehen in Sachen Verfassungsschutz gutachterlich beraten hat (JF 47/19). Karlsruhe hatte seinerzeit im Fall Ramelow zu dessen Gunsten entschieden: Die langjährige Beobachtung seiner Person als Bundestags- und Landtagsabgeordnetem genüge den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht.

Denn damit das Interesse des Staates am Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung den Schutzanspruch des freien Mandats überwiegt, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Etwa „wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft“, urteilten die Karlsruher Richter. 

Begrenzt in seiner Bedeutung für die Beurteilung einer Partei durch den Verfassungsschutz ist dagegen der sogenannte Vorlauf, also eine eventuelle frühere extremistische Ausrichtung ihrer Mitglieder. Dies machte in der Vergangenheit das Beispiel der Grünen deutlich. Anfang 1985 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) festgestellt, daß „mindestens fünf, also fast die Hälfte der elf Mitglieder des Bundesvorstands, darunter zwei der drei Sprecher“ vorher linksextremistischen Organisationen angehört hatten. Dies lasse jedoch nach damaliger Ansicht der Behörde „nur sehr begrenzte Rückschlüsse auf Umfang und Einfluß des gegenwärtigen extremistischen Potentials innerhalb der Grünen zu“. 

Der JUNGEN FREIHEIT teilte das BfV nun mit, es könne „nach sorgfältiger Abwägung“ die Frage „hinsichtlich einer etwaigen Beobachtung von Abgeordneten“ nicht beantworten. Denn „durch eine Stellungnahme zum Beobachtungsobjekt einer Organisation außerhalb der Verfassungsschutzberichte könnten Rückschlüsse auf den Aufklärungsbedarf, den Erkenntnisstand sowie die generelle Arbeitsweise des BfV gezogen werden“. Daraus, so betonte die Pressesprecherin, „kann weder gefolgert werden, daß eine Organisation beobachtet wird, noch daß sie nicht beobachtet wird“.