© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Tausendsassa am Rio de La Plata
Argentinien: Der neue Präsident versucht sich als Feuerwehrmann an allen Fronten
Jörg Sobolewski

Mit dem Monopoly-Befehl „Gehen Sie zurück auf Los“  startete  Argentinien ins Jahr. Der neue Präsident Alberto Angel Fernández war als Parteigänger der langjährigen Amtsinhaberin Kirchner ins Amt gelangt. Bei einem Kandidaten der peronistischen Partei war man inner- wie außerhalb des Landes auf alles vorbereitet. Von quasisozialistischen Schulterschlüssen mit Venezuelas Maduro bis zu nationalistischen Alleingängen lag alles auf dem Tisch. 

Doch anstatt mit außenpolitischen Abenteuern glänzt Fernández im Amt mit einer bemerkenswerten diplomatischen Offensive: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Spaniens Ministerpäsident Pedro Sánchez oder der Papst höchstselbst konnten sich über Besuche und Charmeoffensiven freuen. 

Der Anti-Bolsonaro kommt in der EU gut an

„Wir haben eine Gesellschaft, die mit deutscher Einwanderung gebaut worden ist, auch mit Italienern, Spaniern und Franzosen“, umschmeichelte er auch Kanzlerin Angela Merkel. Sie versprach zu prüfen, „wo man von deutscher und europäischer Seite unterstützend und hilfreich“ eingreifen könne. 

Wie alles in der Politik hat auch das seine verborgenen Gründe. Fernández  trat ein schwieriges Erbe an. Unter seinem Vorgänger Mauricio Macri ist der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung ausgeblieben. Der neoliberale Finanzfachmann hatte seinem Land eine marktwirtschaftliche Radikalkur verordnet.

 Um endlich die Gläubiger der vergangenen Jahre bedienen zu können, begann er einen Sparkurs ohne Gnade. Ausgaben für Kultur und Soziales wurden auf das absolute Minimum zurückgefahren, der Wechselkurs freigegeben und Handelsbarrieren gesenkt. Den entscheidenden Impuls sollte die Einigung mit der EU über die Rahmenbedingungen eines weitreichenden Freihandelsabkommens geben.

 Wirtschaftswachstum und Exportsteigerung würden das strauchelnde Land zwischen Pampa und Patagonien aus der Krise reißen. So zumindest die Hoffnung Macris. Doch die zaghaften Ansätze der Erholung blieben stecken. Der argentinische Peso befand sich zum Ende der Legislaturperiode Macris auf einem neuen Tiefpunkt, Arbeitslosigkeit und Armut – jetzt ohne jede soziale Federung – grassierten. Was noch schlimmer wiegt: 2018/2019 ist der Hunger nach Argentinien zurückgekehrt. Siebzehn Prozent der Argentinier waren unter Macri nicht in der Lage, jeden Tag mindestens eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wohl selten hat ein Land in Friedenszeiten solch eine Entwicklung durchmachen müssen. 

Dennoch, das Land bediente erstmals wieder seine Gläubiger in regelmäßigen Abständen. Selbst eine Finanzspritze wurde vom IWF in Aussicht gestellt –  sofern weitere Sparmaßnahmen durchgeführt würden, versteht sich. 

Davon ist nun keine Rede mehr. Präsident Fernández kündigt an, sich wieder zuerst um die eigene Bevölkerung und dann erst um die ausländischen Gläubiger zu kümmern. Eine Losung, die unter Präsidentin Kirchner zu einem kompletten Stopp aller Zahlungen geführt und das Land über Jahre zu einem Paria der internationalen Finanzwelt machte. 

Angesichts von 300 Milliarden US-Dollar Schulden eine unangenehme Situation, die der Neue vermeiden will. So ist nun von einem vollständigen Stopp nicht mehr die Rede. Stattdessen will Fernández neu verhandeln und setzt dafür auf die Hilfe der europäischen Staatschefs. 

Denen wiederum kommt der neue Machthaber in Buenos Aires gerade recht. Nach der Wahl des rechtskonservativen Jair Bolsonaro im Nachbarstaat Brasilien sind die Europäer verstärkt auf der Suche nach für sie passenderen Partnern in der Region. Fernández weiß das für sich zu nutzen und hofft auf politische Rückendeckung, während er einen Teil der Sparreformen im Land wieder rückgängig macht. 

Vizepräsidentin Kirchner als Klotz am Bein

Vor allem dem bereits erwähnten Hunger hat er den Kampf angesagt. Zugute kommt ihm dabei, daß die Investitionen der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre in die Infrastruktur des Landes sich nun auszuzahlen beginnen.

 Schienen- und Straßennetz sind in einem sehr guten Zustand und als eines der wenigen Länder auf dem Kontinent verfügt das Land über einen funktionierenden Bahnfernverkehr zwischen den wichtigsten Metropolen des Landes. Auch das Bildungsniveau in Argentinien ist unverändert hoch, universitäre Bildung auch für niedrigere Einkommensschichten erschwinglich und gut. 

Dank steuerlicher Anreize aus der Ära Macri ist die Lage für ausländische Investoren deutlich attraktiver geworden. „Ein schlafendes Schneewittchen“ nennt Esteban Pontoriero sein Land. Der Dozent an einer Universität in Buenos Aires sieht für sein Land eine großartige Zukunft. „Wir haben alle notwendigen Produktionsmittel, das einzige, was uns im Wege steht, ist eine überbordende Bürokratie und ein gewisser Fatalismus der Argentinier. Wenn der neue Präsident einen echten Impuls zur Erneuerung mit sich bringt und dabei die harten Folgen der Reformen unter Macro etwas abfedert, dann haben wir eine echte Chance für die Zukunft.“ 

Andere befürchten jedoch, daß hier eine Gleichung ohne die wichtigste Konstante der argentinischen Politik gemacht wird. Die Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner ist weiterhin das große Fragezeichen hinter Präsident Fernández. Es war ihre Politik als Präsidentin in den Jahren 2007 bis 2015 die das Land von einer Epoche der wirtschaftlichen Misere in die einer ausgewachsenen Krise stürzte. Mit unvorhersehbaren Manövern und einer eng an Venezuela und Bolivien angelehnten Rhetorik hat Ex-Präsidentin Kirchner in der Vergangenheit viel an wirtschaftspolitischem Porzellan zerschlagen. 

„Solange Kirchner in dem Spiel mitmischt, wird es für Fernández schwierig, mit den Gläubigern nachzuverhandeln.“ Dies glaubt auch Ezequiel Lerech, ein junger Arzt aus Mendoza. Wie viele seiner gut ausgebildeten Landsleute fand er sein Glück im Ausland und arbeitet heute an einem Krankenhaus in Madrid. 

Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, aber es dürften Tausende gut ausgebildeter Argentinier sein, die in den vergangenen Jahren ausgewandert sind. Ein nicht zu unterschätzender Brain-Drain einer so wichtigen Ressource. 

„Wenn Fernández Vertrauen im Ausland aufbauen will, muß er Vizepräsidentin Kirchner glaubhaft aus der Wirtschaftspolitik heraushalten“, glaubt auch Esteban. Dabei steckt Fernández  im Amt in einer Zwangslage. Die mit allen Wassern gewaschene Populistin wird jeden seiner Schritte mit Argusaugen verfolgen, und jeder Fehltritt könnte eine vielversprechende Amtszeit vor ihrer Ablaufzeit beenden.