© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Ein anderes Verständnis von Deutschtum
Innere Emigration, JF-Serie Teil VIII: Ricarda Huchs „Deutsche Geschichte“
Günter Scholdt

Ricarda Huch (1864–1947) ist, ohne jede Ironie gesagt, so etwas wie die Vorzeigedame der Inneren Emigration, der selbst unsere Rückschaumoralisten Anerkennung zollen. Denn die mutige Vertreterin eines freiheitsbewußten Deutschtums erwies sich durchweg als nonkonformistische Zeitzeugin ihrer Epoche. Nach einem Philosophie- und Geschichtsstudium in Zürich verfaßte sie Gedichte, Romane und Biographien sowie umfangreiche Werke über die Romantik, den Dreißigjährigen Krieg oder die 48er Revolution. Ihr besonderes Interesse galt historischen Persönlichkeiten, meist revolutionären oder reformerischen Geistern wie Garibaldi, Stein oder Bakunin. 

Stets Dame trotz eines für damalige Verhältnisse zunächst exzentrischen Lebenslaufs, war sie gewiß eine außergewöhnliche Persönlichkeit: hoch gebildet, emanzipiert, weltoffen, aber ohne nationalmasochistische Neigungen, wie sie nach den Weltkriegen den intellektuellen Trend bestimmten. Auch der Preußischen Akademie der Künste gehörte sie an (zunächst als einzige Autorin) und widersprach deren Präsident Max von Schillings, als der 1933 ein Bekenntnis zum neuen Staat verlangte, mit beispielhafter Entschiedenheit: „Daß ein Deutscher deutsch empfindet, möchte ich fast für selbstverständlich halten, aber was (...) die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“ Bei solchen Meinungsdifferenzen halte sie es „für unmöglich, in einer staatlichen Akademie zu bleiben“.

Regimekritik im historischen Gewand

Über diese Unbotmäßigkeit sah man von offizieller Seite erstaunlicherweise hinweg wie zuweilen noch später, als etwa ihrem freizügigen Reden im Privatkreis eine Anklage nach dem sogenannten Heimtückegesetz folgte. Einen gewissen Schutz boten ihr internationales literarisches Renommee – wegen der Garibaldi-Biographie sogar bei italienischen Faschisten – sowie prominente Bekanntschaften, darunter die mit Reichsjustizminister Franz Gürtner. Dabei enthielten ihre Werke durchaus zeitgenössische Anspielungen, exemplarisch die Rußland-Novelle „Weiße Nächte“ (1943) oder ihr Temperaments-ausbruch „Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest“, publiziert im Gedichtband „Herbstfeuer“ (1944). Zur öffentlichen Herausforderung jedoch gedieh 1934 der erste Band ihrer „Deutschen Geschichte“, der zentrale NS-Dogmen schlicht ignorierte. 

Grundsätzlich war Regimekritik ja fast nur noch möglich, wenn sie sich historisch kostümierte. Das erklärt eine Fülle belletristischer Werke über weltgeschichtliche Alleinherrscher und Unterdrückung. Um Bespitzelung, Propaganda und Polizeiterror geht es etwa in Arnold Ulitz’ „Der Gaukler von London“ (1938). Im selben Jahr gestaltete Reinhold Schneider in „Las Casas vor Karl V.“ das Thema Judenverfolgung am Beispiel der Grausamkeiten an Indios. Fritz Reck-Malleczewens „Bockelson“, ein Buch über die Wiedertäufer in Münster (1937), schildert, vor zeitgenössischen Parallelen strotzend, den dortigen Massenwahn. Seine ein Jahr später publizierte „Charlotte Corday. Geschichte eines Attentates“ enthält neben Sarkasmen zum Führerkult einen eindringlichen patriotischen Aufruf zum politischen Mord an Marat alias Hitler. Werner Bergengruens „Am Himmel wie auf Erden“ behandelt zeitgemäß ausdeutbare Katastrophenangst und gewaltsame Versuche staatlicher Meinungslenkung. 

Mit solchen Darstellungen und Reinhold Schneiders Geschichte Britanniens, „Das Inselreich“ (1936), die den verhängnisvollen Verzicht auf religiöse und rechtliche Staatsfundierung kritisiert, betreten wir den Übergangsbereich zwischen Geschichtsbelletristik und historiographischem Sachbuch. Ähnliches gilt für Marianne Langewiesches  „Königin der Meere“ (1940), dessen Vorwort das tatsächlich 1000jährige Reich Venedig für sein Erfolgsrezept preist, kluge Diplomatie statt großer Worte, Beschränkung statt Welteroberungsgelüste praktiziert zu haben. Frank Thiess’ „Das Reich der Dämonen“ (1941) wiederum, ein monumentaler „Roman eines Jahrtausends“ bot eine Generalabrechnung mit dem bereits in der Antike faßbaren Geist der Despotie und eine Fülle aktueller Bezüge. Sie galten etwa Sparta, Diocletian, der Christenverfolgung oder Alexander dem Großen als „einzigem Kosmopoliten unter allen Eroberern“, der die „Besiegten nicht versklaven“ wollte und daher „wirklich zum Weltherrscher geboren“ war. 

Auch Ricarda Huchs „Römisches Reich Deutscher Nation“ von 1934 evoziert Gegenwartseinsichten, wenngleich ihre Darstellungsabsicht nicht primär auf Entschlüsselung, sondern auf ein souverän ihren Eindrücken entsprechendes Zeitbild zielte. Darüber hinaus ging es ihr um literarisch pointierte, kaleidoskopisch vermittelte, vor allem plastische Geschichtsschreibung. Ihre faktenraffenden Bilanzen über Territorialfürsten, Herrscherhäuser, Zunftkämpfe oder Städtebünde ergänzen liebevoll psychologisierende Charakterbilder, in denen auch mal Legenden Verarbeitung finden.

Das Buch kollidierte mit NS-Kernforderungen

Heutige Wissenschaftler, die ihre fußnotengespickten (vielfach angepaßten) geschichtspolitischen Legitimationserzählungen gerne als alleinseligmachenden Weg zur Erkenntnis verkaufen, mögen methodisch die Nase rümpfen. Immerhin wird auch hier anekdotisch etliches an Sozial- und Ideen-, Religions- und Ereignisgeschichte veranschaulicht. Der Band wurde zum Skandalon, da er mit Kernforderungen nazistischer Ideologie kollidierte. Insbesondere 13 Seiten über die Judenfrage elektrisieren geradezu durch Huchs couragierten Willen zur Objektivität. Zum Beleg ihres ungewöhnlichen Freimuts genügen zwei Textproben: „Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren. So pflegt die ewige Gerechtigkeit Gewinn und Verlust zwischen Verfolgern und Verfolgten zu verteilen.“ Zudem geißelte Huch Judenhetze von Gläubigern unter religiösem Vorwand und rühmte den Schutz vieler (an Krediten interessierter) Fürsten, „weil die Haltung eines Volkes immer von denjenigen bestimmt wird, die an der Spitze stehen. Ob es sich um eine Schule, eine Stadtgemeinde, eine Kirchgemeinde oder ein Land handelt, die Großmut oder Niedrigkeit, die Überlegenheit oder Beschränktheit des Führers wird den Charakter der Gruppe, des Landes bestimmen.“

Der dritte Band erschien erst nach ihrem Tod

Solcher Mut provozierte eine rüde Schelte durch Rosenbergs Nationalsozialistische Monatshefte. Jeder „freiheit- und ehrliebende Deutsche“, heißt es, wehre sich mit „leidenschaftlicher Empörung“ gegen dieses Werk, das „die Weltmachtansprüche Roms“ im Stil Kardinal Faulhabers zu Lasten der Germanen vertrete. Die Autorin verteidige Juden und Klöster in „fassungslos“ machender Offenheit. „Wir zweifeln nicht daran, daß die Huch für dieses Werk ultra montes höchstes Lob ernten wird. Mag sie dann auch getrost ganz jenseits der Berge bleiben und dort die Blüten ihres Geistes verstreuen. Im Deutschland Adolf Hitlers ist für Magierinnen dieser Art heute kein Platz mehr.“

Wie ging es weiter mit Huchs „Deutscher Geschichte“? Der zweite Band, „Das Zeitalter der Glaubensspaltung“, konnte 1937 gerade noch erscheinen, da die Autorin sich bei offen anstößigen Stellen zurücknahm, um sein Erscheinen nicht zu gefährden. Da man anschließend frühere Werke von ihr beschlagnahmte und für Leihbüchereien verbot, zögerte sie zunächst, den abzuschließenden dritten Band anzugehen. Schließlich enthalte, wie sie ihrem Verleger schrieb, besonders die Absolutismus-Epoche „natürlicherweise manche Analogien zur heutigen Zeit“. Anderseits ließ sie dies Buchprojekt nicht los, und sie beendete es 1941. 

Vor der verschärften Goebbels-Zensur fand der „Untergang des Römischen Reiches Deutscher Nation“ jedoch keine Gnade und konnte erst in der Nachkriegszeit publiziert werden. Nicht gleich, sondern posthum 1949. Denn auch unter französischer Besatzung mißfiel deren Zensurbehörde ein Kapitel: jenes über Ludwig XIV. – eine kulturhistorische Petitesse, die gleichwohl ihre Symptomatik besitzt. Offenbar erweist sich der Wunsch nach Kontrolle von Meinungen, Geschichts- und Weltbildern als zeit- und systemübergreifend. Und wir Heutigen können leider nicht mal behaupten, wir hätten davon grundsätzlich gelernt. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.