© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Thüringen und das Ende der liberalen Demokratie
Auftakt eines großen Dramas
Karlheinz Weißmann

Fragt man einen jungen Bundesbürger, was das Wesen unserer Demokratie ausmacht, wird er mit leuchtenden Augen antworten. Überzeugt, im freiesten Land deutscher Geschichte zu leben, verweist er auf allgemeines Wahlrecht, Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Mandatsträger, aber selbstverständlich auch auf die Prinzipien der offenen Debatte, des Kompromisses, der wechselseitigen Achtung und der Vermeidung des Freund-Feind-Denkens.

Betrachtet er die Vorgänge, die seit zwei Wochen in Thüringen ablaufen, müßte er zu dem Ergebnis kommen, daß zwischen Lehre und Wirklichkeit ein Abgrund klafft. Es darf zwar noch gewählt werden, aber die Gewaltenteilung – jedenfalls die zwischen Bund und Ländern – ist offenbar das Papier nicht wert, auf dem das Grundgesetz gedruckt steht. Da genügt eine Weisung aus Berlin, und schon erklärt ein Ministerpräsident seinen Rücktritt.

Das ist nur möglich, weil die Funktionäre und die Abgeordneten der etablierten Parteien genau das zu tun haben, was die Zentrale kommandiert. Wer abweicht, hat mit üblen Folgen zu rechnen, mindestens dem Verlust seines Postens oder seines Sitzes. Von einer vorbehaltlosen Diskussion über die Vorgänge kann schon deshalb keine Rede sein. Vielmehr haben sich alle daran zu halten, daß man mit gewissen Leuten nicht spricht, nicht einmal in einer Talkshow.

Im übrigen gibt es exakt vorgeschriebene Bahnen der Argumentation. Als deren Voraussetzung hat zu gelten, daß es mit einer Gruppe keine Zusammenarbeit geben darf. Das ist die AfD. Obwohl ihr 23,4 Prozent der Wähler in Thüringen die Stimme gaben und sie damit zur zweitstärksten Kraft wurde, behandelt man sie als Paria. Das heißt, sie ist „unberührbar“, und wer das nicht akzeptiert, das heißt zum „Tabubruch“  schreitet, „verunreinigt“ sich, und seine „Unreinheit“ greift auf alles über, was in seine Nähe kommt. Ihm gegenüber gelten keine Anstandsregeln mehr.

Der Akt, mit dem die Fraktionschefin der Linken Susanne Hennig-Wellsow dem neu gewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich den üblichen Blumenstrauß bei der üblichen Gratulation vor die Füße geworfen hat, war deshalb nur der Auftakt. Es folgten Schmähungen und Drohungen aller Art, Angriffe auf Einrichtungen der FDP oder die Privathäuser ihrer Mitglieder, Kemmerichs Kinder erhielten Personenschutz für den Weg zur Schule. Parallel dazu entbrannte eine Auseinandersetzung um jene in der CDU, die über eine Kooperation mit der AfD mehr oder weniger laut nachgedacht haben.

Die AfD kann sagen oder tun, was immer sie will, es gilt das Urteil der Kanzlerin, daß sie nur ein Ziel kenne: „die Demokratie kaputtmachen“. Das ist Ausdruck eines Freund-Feind-Denkens – das gerade von denen so eifrig praktiziert wird, die es verdammen.

Das trifft vor allem Mitglieder der Werte-Union. Deren Sprecher Ralf Höcker hat angesichts der Drohungen resigniert, sein Amt aufgegeben und sich aus der Politik zurückgezogen. Damit nicht genug, werden Angehörige der Werte-Union sogar von Parteifreunden als „Krebsgeschwür“ (Elmar Brok) beschimpft. Die Polemik nähert sich sukzessive derjenigen gegen die AfD an, die als „Gift“ (Holger Stahlknecht) oder als „Krankheit“ (Micha Brumlik) zu bezeichnen längst üblich ist.

Daneben beschwören die Medien die Parallele zum Aufstieg der NSDAP, sehen die einen schon die Sturmtruppen einer neuen, dieses Mal „schwarz-blau-braunen“ Harzburger Front marschieren, verweisen die anderen düster darauf, daß die Nationalsozialisten 1930 ausgerechnet in Thüringen an einer ersten Landesregierung beteiligt wurden. Und besonders Aufmerksame erkennen in der höflichen Verbeugung des AfD-Fraktionschefs Höcke gegenüber Kemmerich eine Wiederholung des Handschlags Hitler-Hindenburg beim „Tag von Potsdam“ 1933. Die AfD-Linie, nicht nur ein bürgerliches Kabinett zu tolerieren, sondern im Zweifelsfall auch den gescheiterten linken Kandidaten Bodo Ramelow zu wählen, wird parallel gesetzt zur Obstruktion der NSDAP in den Parlamenten der Weimarer Republik. Die AfD kann sagen oder tun, was immer sie will, es gilt das Urteil der Kanzlerin, daß sie nur ein Ziel kenne: „die Demokratie kaputtmachen“.

Das ist zweifellos Ausdruck eines Freund-Feind-Denkens. Das gerade von denen so eifrig praktiziert wird, die es verdammen. Aber wer seinen Carl Schmitt gelesen hat, weiß, daß er diese Art des Umgangs mit dem Gegner gerade nicht gemeint hatte. Denn im Politischen muß der Feind weder schädlich noch häßlich, noch böse sein. Nüchtern betrachtet, ist er ein Konkurrent um Macht. Daß es ihn gibt, liegt in der Natur der Dinge. Denn Machtbesitz, vor allem legaler Machtbesitz, bietet eine „Prämie“, also ein Mehr an Macht, sprich Handlungsmöglichkeiten.

Schmitt hat ganz bewußt eine möglichst umfassende und daher abstrakte Definition gegeben. In den konkreten Machtkämpfen kommen immer auch ökonomische, ästhetische, moralische Faktoren ins Spiel. Denn sie wirken in hohem Maß mobilisierend auf die eigene Anhängerschaft, und solche Mobilisierung ist um so wichtiger, je größer die drohende Gefahr wirkt. Die größte Gefahr ist selbstverständlich die des Machtverlusts.

Will man verstehen, was sich in Thüringen abspielt, muß man diesen Sachverhalt ins Auge fassen. Denn die Härte der Auseinandersetzung, die Maßlosigkeit der Vorwürfe, die Hysterie der Ausbrüche erklärt sich vor allem aus dem Empfinden, daß hier keine Provinzposse gegeben wird, sondern der erste Akt eines großen Dramas. Dessen Thema ist der Untergang des Parteiensystems, wie es sich nach dem Ende der Nachkriegszeit ausgebildet hatte: getragen von einer immer breiter werdenden Mitte, der es gelang, die fallweise auftretenden Konkurrenten links zu integrieren, während die Grenze zur Gegenseite – also nach rechts – scharf gezogen blieb.

Die Voraussetzung für den Erfolg dieses Verfahrens war neben Prosperität der Siegeszug einer irgendwie kosmopolitischen, egalitären, öko-feministischen Weltanschauung, die nach und nach das gesamte politische Spektrum ergriffen hat. Alle, von den Postkommunisten bis zur CSU, das heißt „die demokratischen Parteien“, haben sich dieser Ideologie unterworfen und damit die politische Auseinandersetzung zu einer Art Nullsummenspiel gemacht. Es verschieben sich vielleicht Stimmenanteile, und mal erhalten die einen, mal die anderen Zugriff auf Posten und Pfründen. Aber letztlich ist jeder, der dazugehört, irgendwann einmal „dran“.

Diese Art von Blockbildung hatte bei Auftreten der AfD ein Ende. Anfangs hoffte man zwar, daß es sich um ein vorübergehendes Phänomen handele. Aber als diese Erwartung trog, wurde die Frage, ob man die Alternative in den „Verfassungsbogen“ aufnehmen wolle oder nicht, schnell – und zwar abschlägig – beschieden.

Nehmen wir zur Kenntnis, daß die Schärfe des Tons der Auseinandersetzung ihre Ursache darin hat, daß es nicht mehr um dieses oder jenes Tagesproblem geht, nicht nur um Thüringen und nicht einmal um Deutschland, sondern um Grundsätzliches.

Nun könnte man darauf hinweisen, daß solche „Ausgrenzung“ gegenüber einer „Minderheit“ eigentlich inakzeptabel ist, angesichts einer Welt, in der die „Toleranz“ gegenüber „dem Anderen“, „Diversität“ bei gleichzeitiger „Inklusion“, zu den allgemein akzeptierten „Werten“ gehört. Aber dazu ist die Lage zu ernst. Nehmen wir zur Kenntnis, daß die Schärfe des Tons der politischen Auseinandersetzung ihre wesentliche Ursache darin hat, daß es nicht mehr um dieses oder jenes Tagesproblem geht, nicht nur um Thüringen und nicht einmal um Deutschland, sondern um Grundsätzliches.

Der britische Autor David Goodhart spricht in dem Zusammenhang von einer neuen politischen Konfliktlinie, die nur noch zwischen zwei „Clans“ verläuft: den „Somewheres“ und den „Anywheres“. Während die Angehörigen des Clans „Irgendwo“ eine bestimmte Heimat haben und sich einer bestimmten Gemeinschaft – in der Regel ihrer Nation – verpflichtet fühlen, besteht der Clan „Überall“ aus denen, die kein Zuhause kennen, sich als Weltbürger betrachten und keine Loyalität gegenüber einem konkreten Vaterland empfinden.

Der erste Clan stellt die große Mehrheit der Bevölkerung, in Großbritannien etwa 60 Prozent, der zweite lediglich ein Viertel, bestenfalls ein Drittel. Trotz dieser Kräfteverhältnisse geben die „Anywheres“ den Ton an. Unter ihnen findet sich die Masse der Akademiker. Sie haben über die Bildungseinrichtungen und die Medien entscheidenden Einfluß auf die Meinungsproduktion. Ein Tatbestand, der von den „Somewheres“ lange hingenommen wurde.

Aber angesichts der negativen Folgen von Globalisierung, Masseneinwanderung, Aufstieg des Islams und Verfall der inneren wie äußeren Sicherheit ändere sich das, so Goodhart. In den USA wie in den meisten europäischen Ländern gebe es Ansätze einer „populistischen Revolte“, die mit dem Links-Rechts-Schema kaum zu fassen sei. Die Wahl Trumps wie der Brexit wie der Niedergang des alten Parteiensystems auf dem Kontinent seien nur Symptome dieses Prozesses, der lange nicht an sein Ende gekommen sei.

Geht man in der Analyse einen Schritt weiter, dann wird deutlich, daß sich die in den 1960er Jahren beginnende Phase der „liberalen Demokratie“ dem Ende zuneigt. Deren Nutznießer verteidigen erbittert ihre Position. Dazu gehört auch die Behauptung, daß jeder Kritiker der bestehenden Verhältnisse im Grunde nichts anderes wollen könne, als ein totalitäres Regime zu errichten. Davon sind die „antiliberalen Demokraten“ allerdings weit entfernt. Sie bringen die Verhältnisse schon dadurch zum Tanzen, daß sie erkennbar auf Identität, Solidarität und Ordnung setzen, gegen Entwurzelung, Umverteilung und Unordnung.

Und manchmal, wie in Thüringen, genügt es sogar, einfach zuzusehen, wie sich die Etablierten selbst erledigen. Die Prognosen für eine Neuwahl sind entsprechend: Die CDU würde ein Drittel ihres Stimmenanteils verlieren, die SPD könnte so wenig profitieren wie die Grünen, die FDP wäre erledigt, gestärkt gingen aus dem Entscheid nur zwei Gruppierungen hervor: die Linke und die AfD.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitete von 1982 bis 2020 im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Luther und Deutschland („Der deutscheste Mann“).

Foto: Teilnehmer einer Gewerkschafts­demonstration halten am vergangenen Samstag in Erfurt ein Plakat hoch mit dem Schriftzug „Demokratie“ und einer dämonisierenden Darstellung von Thomas Kemmerich (FDP) und Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke, die an eine Abrißbirne erinnert: Die Blockbildung der alten Parteien mit ihrem Nullsummenspiel hat mit dem Auftreten der AfD ein Ende gefunden, nicht die Demokratie als solche. Zur Demokratie gehört die Gewaltenteilung. Um die steht es schlecht im Deutschland unter Merkel