© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Mit Bernie Sanders geht die Sonne auf
Vorwärts immer, rückwärts nimmer: Der Soziologe Hauke Brunkhorst sieht überall den demokratischen Universalismus in der Offensive
Wolfgang Müller

Der Flensburger Soziologe Hauke Brunkhorst, Jahrgang 1945, ist einer der ältesten und textsichersten Papageien, die in den Seminarvolieren der „Frankfurter Schule“ heranwuchsen. In der von der Hertie School of Governance mit herausgegebenen Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft (Leviathan, 3/2019), die aus linksliberaler Produktion alles abdruckt, was zu lang ist für Zeit oder Süddeutsche Zeitung, durfte daher Brunkhorsts Beitrag zum 90. Geburtstag seines Meisters Jürgen Habermas keinesfalls fehlen.

Erschütternder Mangel an politischer Urteilskraft

Der Essay „Demokratischer Universalismus“ bringt schon im Titel einige Regalmeter Habermas auf eine examens-taugliche Faustformel. Entsprechend schlicht fallen die daraus abgeleiteten kosmopolitischen Konfessionen des Autors aus, die sich über zwanzig Seiten erstrecken. Zur Entfaltung des zentralen Axioms der Habermasschen Glaubenslehre, „Der Mensch ist gut“, benötigt Brunkhorst nur vier Obersätze. 

1. Da der Mensch gut ist, ist er fähig, frei und selbstbestimmt mit seinesgleichen zu leben. 

2. Dieses Ideal einer demokratischen Ordnung der Selbstbestimmten ist das Ziel der Geschichte. „Unter günstigen Umständen und nach langen Klassenkämpfen“ erlauben dessen Vorstufen, die realexistierenden Demokratien, einen „progressiven Reformismus“, der den wilden, menschenfeindlichen Kapitalismus langsam sozialistisch zähme.

3. Der historische Prozeß des Fortschritts verläuft nicht linear. Er stößt auf Widerstände, die sich unter der Fahne des „regressiven Reformismus“ formieren. Musterbeispiel aus jüngster Zeit: der neoliberale Globalismus, der die Gesellschaft nach den Spielregeln der Märkte „reformiert“.

4. Daraus resultiert unweigerlich „die Krise“, wie sie am 15. September 2008 im „wirtschaftlichen 9/11“, der Insolvenz des New Yorker Bankhauses Lehman Brothers, eskalierte und beinahe in die „unermeßliche Katastrophe des totalen Zusammenbruchs der Weltwirtschaft“ gemündet sei. Ob es nach einer Dekade Weltfinanzkrise heute besser aussehe, sei „eine gänzlich offene Frage“.

Wie regelmäßig Habermas, so kombiniert auch Brunkhorst notorisch Wissenschaft und Stammtisch. Seine Aufmerksamkeit beim Denken und Schreiben scheint daher fortwährend durch Tagesaktualitäten abgelenkt. So hebt auch dieser Aufsatz mit dem Versuch an, die Zeitgeschichte nach 1945 philosophisch als mühsamen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel) zu begreifen. Bis er sukzessive in einem, im wesentlichen aus Adam Toozes Einsichten („Crashed: How a Decade of Financial Crises Changed the World“, New York 2018) geschöpften Laienkommentar zur Weltfinanzkrise versackt. Um mit der satten Gewißheit zu enden, das Fortschrittsparadigma sei trotz allem intakt. Weil die New York Times über die Zerschlagung von Facebook & Co. spekuliere und ihre Spalten für Debatten über den „demokratischen Sozialismus und die Abschaffung der Milliardäre“ öffne. Und weil „jetzt Bernie Sanders schon das zweitemal ganz vorn dabei ist“ im Wettbewerb um die Präsidentschaft. Jetzt muß dieser demokratische Kandidat lediglich das kleine Kunststück vollbringen, Donald Trump zu schlagen. Wäre der US-Wahlkampf ein Hunderennen, hätte Brunkhorst mit Sanders wohl auf den ewigen Verlierer „Fliegendes Schlappohr“ gesetzt und zugleich dokumentiert, daß die Heilslehre des „demokratischen Universalismus“ mit einem erschütternden Mangel an politischer Urteilskraft einhergeht.

Der diplomierte Pädagoge Brunkhorst offenbart mit solchen Kindereien exakt die gleiche Unfähigkeit zu „sicherer Weltumsicht“ (Goethe), die er den Hauptakteuren in den chronischen Krisen seit 2008, Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Peer Steinbrück, vorwirft. Dieses mediokere Personal, das wie er selbst nicht „aus der Schule einer großen Erfahrung“ stammt, weswegen sich dessen „Grillen endlich zu fixen Ideen verhärten“ (Heinrich von Treitschke), hielt bis an den Rand des Abgrunds und darüber hinaus an der von Brunkhorst zitierten Überzeugung des ehemaligen US-Notenbankchefs Alan Greenspan fest, wonach es kaum eine Rolle spiele, wer im Weißen Haus sitze. Denn Politik sei in den USA (und nicht nur dort) „dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktwirtschaft ersetzt“ worden. Also werde „die Welt durch Marktkräfte regiert“. Später waren es vor allem Merkel und Schäuble, die mit dem gleichen zynischen Fatalismus erklärten, ihre Grenzen könne eine „marktkonforme Demokratie“ nicht schützen, wenn die Masseneinwanderung zum „Rendezvous mit der Globalisierung“ einlade.

Angeblich sei überall die Demokratie fest etabliert

Diesem „regressiven“ neoliberalen Reformismus prophezeit Brunkhorst ein nahes Ende. Nicht nur weil es in der New York Times steht oder Bernie Sanders’ Weizen so prächtig zu blühen scheint. Auch und gerade, weil nunmehr „nahezu alle Verfassungen der gegenwärtigen Weltgesellschaft“ ähnlich kosmopolitisch konstruiert seien wie das bundesrepublikanische Grundgesetz. Überall im weiten Erdenrund, zumindest wie es aus Flensburger Maulwurfsperspektive wahrzunehmen ist, würden demnach „alle sozialen Klassen, Geschlechtszugehörigkeiten (sexuelle Orientierungen) und Nationalitäten (Kulturen, races/colors) gleichermaßen in die politische Gesetzgebung einbezogen“. Überall sei die moderne Demokratie als „universelle, inklusive Rechtsgenossenschaft“ entweder schon fest etabliert, wie im demnächst von der „Rasse und Kultur“ seiner deutschen Autochthonen weitgehend befreiten Buntland. Oder doch auf gutem Wege. Wie etwa bei den muslimischen Autokratien, den afrikanischen Stammesregimen? Doch mit Realitäten darf man Brunkhorst, Habermas und andere kannegießernden, beim universalistischen Abbau des Menschlichen nützlichen Idioten nicht irritieren.