© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/20 / 21. Februar 2020

Attilas Söhne mit der Postleitzahl 10100
Die Lust am Archaischen: Die „Axt aus der Steppe“ von Altmeister Jean Raspail liegt nun auf deutsch vor
Malte Oppermann

Man muß seine Kindheit nicht als Indianer verkleidet mit Jagd- und Schleichspielen im Wald verbracht haben, um Jean Raspails Faszination für ursprüngliche Völker zu verstehen. Aber es schadet auch nicht. Jeder, der noch seinen alten Bogen und Köcher irgendwo auf dem Dachboden herumliegen hat, wird in Raspail einen Komplizen seines jüngeren Ichs finden. Einen, der mit den Mitteln des Erwachsenen die Abenteuer verwirklicht, von denen das Kind in seinem Baumhaus träumte. Die letzten ihrer Art, von denen dieses Buch erzählt, können alle Eigenschaften vorweisen, die ein Tecumseh oder Geronimo haben muß: Sie sind buchstäbliche Waldgänger; dem Untergang geweiht, doch unbeugsam. Letzte Zeugen einer Menschheit, die bereit war, aus Stolz zu sterben und aus Gottesfurcht zu töten.

Gebannt folgt man dem Autor in die dünne Luft der Hochplateaus der Anden, voller Hoffnung, er möge den letzten Überlebenden eines Stammes, von dem es heißt, er sei schon in den fünfziger Jahren ausgestorben, doch noch antreffen. Wenn der Wanderer dann in einem verlassenen Dorf ganz für sich allein, mit Hilfe eines ethnologischen Wälzers, die uralten Riten der halbgöttlichen Urus nachfeiert, sieht man jedoch ein, daß die Begeisterung dieses Mannes weit über die gemütlichen Gedankenspiele vom wilden und freien Jägerleben hinausgeht, mit denen man sich selbst einst beschäftigt hat. Ohne Frage mangelt es Raspails Abenteuern nicht an Exzentrizität. Doch sie sind alles andere als ein Sport.

„Die Axt aus der Steppe“, so lautet der Titel der jüngst bei Karolinger in Wien erschienenen deutschen Ausgabe von Jean Raspails bereits 1974 veröffentlichtem Buch. Zur Übersetzung aus der Feder von Konrad Weiß hat der heute über neunzigjährige Autor noch eine Einführung beigesteuert.

Die Axt aus der Steppe, sie ist sowohl eine Metapher, als auch ein realer Gegenstand, mit dem sich Kleinholz machen läßt. Ein Familienerbstück der Raspails, mit dem sich eine ganz eigene Mythologie verbindet.

Ironisch und doch mit einer gewissen Spannung, ja Hoffnung, spielt Raspail mit der Möglichkeit, sie könnte seit ihrer Herstellung tausend Jahre vor Christus, von Generation zu Generation ununterbrochen weitervererbt worden und stets in derselben Familie geblieben sein. Ein dubioser Aufsatz des Ururgroßvaters gibt den Hinweis, die Familie könnte von den Westgoten abstammen. Steinerne Äxte gehörten durchaus zu deren Arsenal. Und warum nicht? 

In einer anderen Episode des Buches findet Raspail schließlich auch Söhne Attilas in der Champagne. Nachkommen von Reitern, die nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 n. Chr. in den Armen der Dorfmädchen zurückblieben, die im Hunnenlager ihre Geliebten geworden waren. „Attilas Söhne, Postleitzahl 10100“. Gerade diese Episode ist von umwerfender Komik.

Doch Raspail kann auch anders. Er springt immerzu hin und her zwischen Ironie und mitreißendem Pathos. Seine Begeisterung scheint keine Grenzen zu kennen, wenn er karibischen Keulen oder dem letzten Häuptling der Ainu, der Ureinwohner Japans nachjagt. Was er in den oft unscheinbaren Menschen und Gegenständen findet, denen seine Reisen gelten, ist weit mehr als Indianerromantik. Es ist die Gewißheit, das letzte Glied jener Kette zu berühren, die schließlich bis zur Genesis zurückreicht.

Die Ahnen als Verbindung zum Ursprung sehen

Nur solange er in jener langen Reihe steht, die über seine Eltern und Voreltern bis in den Anfang der Zeiten reicht, hat der Mensch jene Würde, deren Abglanz Raspail überall auf dem Erdball sucht. Das ist ein archaischer Zug. In den Ahnen die Verbindung zum Ursprung und zu Gott zu sehen, hat der Christ sich nach und nach abgewöhnt. An die Stelle der Kette, die durch alle Vergangenheiten hindurch bis an den ersten Anfang führt, ist die Vorstellung von der ewigen Gegenwart des Schöpfers und der „creatio continua“, der unaufhörlichen Schöpfung getreten.

Doch auch wenn der Katholik Raspail diese Zusammenhänge selbstverständlich kennt, ist er immerhin Westgote genug, der Vergangenheit ein kleines bißchen mehr anzuhängen, als gewöhnlich ist. Da mag die Abneigung gegenüber dem bunten Einerlei des modernen Lebens eine Rolle spielen. Viel stärker als solcher Überdruß tritt in seinen Berichten jedoch die sinnliche Präsenz des Alten und Uralten hervor. Und an diesem Punkt kann man von Raspail lernen.

Wer noch nie überwältigt wurde von ihrer Gegenwart, für den mag die Vergangenheit bloße „Erzählung“ sein. Doch jeder andere weiß, daß sie in Steinen und Liedern, Gerüchen und Gesten lebt. Nur wer noch nie in Rom oder Benares war, kann sich darüber täuschen, welche Macht in der Kontinuität der Jahrhunderte und Jahrtausende steckt. Da schlägt in unbeirrbarem Takt ein Puls, der den Menschen der Gegenwart durchströmen und ihn mit allen anderen verbinden kann, die vor ihm gelebt haben. In diesen Takt sich einzuschwingen, das ist es, was Raspail antreibt. Wo es gelingt, weiß er, die Kette ist noch intakt. Die Axt aus der Steppe wird weitervererbt.

Am Ende hat sich der Leser von Raspails melancholischer Liebe für alles Verschwindende anstecken lassen. Ein romantisches und begeisterndes Buch; nicht nur für den, der irgendwo noch Pfeil und Bogen auf dem Dachboden liegen hat.

Jean Raspail: Die Axt aus der Steppe. Reisen auf verwehten Spuren. Karolinger Verlag, Wien 2019, gebunden, 280 Seiten, 24 Euro