© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Vertagen für Fortgeschrittene
Paul Rosen

Wenn etwas „nicht vom Willen des Gesetzgebers gedeckt“ oder „nicht vom Gesetzgeber intendiert“ war und trotzdem gemacht wird, dann sollte man den Stein des Anstoßes schleunigst beseite räumen. Die Zitate stammen von den Abgeordneten Hans Michelbach (CSU) und Fritz Güntzler (CDU), waren am 13. Dezember 2019 im Bundestag zu hören und betreffen Vorgänge, die alle Brötchen- oder Brezel-Käufer seit Jahresbeginn erleben können: Ungefragt wird ihnen ein Kassenzettel über den Erwerb einer Ware von beispielsweise 35 Cent in die Hand gedrückt. Der Bäckerverband rechnete vor, daß die von den Betrieben auszugebenden Belege der zweieinhalbfachen Wegstrecke von der Erde zum Mond entsprechen würden. 

Aber was macht eine Regierungsfraktion, wenn sie zu schwach ist, ein nicht vom Willen des Gesetzgebers (also auch von ihr selbst) gedecktes oder intendiertes Verfahren abzuschaffen? Die Union versuchte, den Belegberg mit dem Mantel des Schweigens zu überdecken. Die FDP-Fraktion hatte einen Gesetzentwurf eingebracht, um die Belegpflicht bei Kleinstbeträgen endgültig aus der Welt zu schaffen. Bei der ersten Beratung im Dezember wetterten Michelbach und Güntzler im Bundestag gegen das Finanzministerium, in dem sich Ressortchef Olaf Scholz (SPD) fast schon starrsinnig weigerte, die Bonpflicht abzumildern. Die Opposition fand es in diesem Zusammenhang auch „interessant und bemerkenswert“ (Christian Dürr, FDP), daß die SPD-Parteiholding DDVG zu fast 50 Prozent an einem Hersteller von Kassensystemen beteiligt sei. Stefan Keuter (AfD) sah darin einen „drohenden Interessenkonflikt“.

Nur die gerne vollmundig als Interessenwahrer des Mittelstands auftretende Union machte nichts und läßt die Bäcker fleißig Belege drucken, die danach im Müll landen. Am 29. Januar sollte der FDP-Gesetzentwurf im Finanzausschuß beraten werden. Für den 30. Januar war die abschließende Beratung im Bundestag vorgesehen. Doch dazu kam es nicht. Im Finanzausschuß wurde der Tagesordnungspunkt mit Stimmen der Union abgesetzt. Damit konnte auch die abschließende Beratung und Abstimmung im Bundestag nicht stattfinden, weil dafür eine Beschlußempfehlung des Ausschusses erforderlich ist. 

Der nächste Debattenversuch im Bundestag sollte am 14. Februar stattfinden. Im Finanzausschuß meldete die Union am 12. Februar überraschend „Beratungsbedarf“ an und beantragte zur Freude des Koalitionspartners SPD, der sich aus dem Druck von fünf Milliarden Belegen im Jahr einen Beitrag für mehr Steuerehrlichkeit der Betriebe verspricht, eine Vertagung. Debatte und Abstimmung fielen erneut aus. Jetzt soll es am kommenden Donnerstag einen dritten Debattenversuch im Bundestag geben.

Der Streit um die kleinen Zettel weist auf ein viel größeres Problem hin: Die Union ist nicht in der Lage, die Interessen ihrer mittelständischen Klientel zu wahren. Das war schon beim Soli-Zuschlag so, der zwar für die meisten Arbeitnehmer 2021 abgeschafft wird, aber vom breiten Mittelstand weiter bezahlt werden muß.