© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Ein Dokument der Paranoia
Verfolgungswahn und Hybris: Das nebulöse Pamphlet des mutmaßlichen Attentäters
Ronald Berthold

Das 24seitige Pamphlet, das der mutmaßliche Attentäter Tobias Rathjen hinterlassen hat, ist ein Dokument von Paranoia und Größenwahn, aber keines, das auf eine geschlossen rechtsextreme Ideologie schließen läßt. Einerseits behauptet Rathjen,1977 in Hanau geboren, Geheimdienste überwachten ihn seit seiner Geburt, würden sich in seine Gedanken „einklinken“ und ihm „Träume einspielen“. Schon am fünften Lebenstag „vernahm ich eine Stimme ... die nicht freundlich war und (sagte): ‘Oh, ich bin in die Falle gegangen.’“

Andererseits habe Hollywood seinen Geist angezapft, um Mega-Filmhits zu drehen. Und auch daß Jürgen Klinsmann Trainer und Oliver Bierhoff Manager der Nationalmannschaft wurden, sei aus seinen Gedanken gestohlen, ebenso wie die US-Strategie gegen China im Handelskrieg sowie weiteres der Weltgeschichte: „Das ist eine große Ehre für mich.“

Als „Hauptanliegen“ nennt er, „daß eine künftige Zentralüberwachung der Bevölkerung nie implementiert wird“. Rathjens Haß auf Ausländer spielt in dem Dokument jedoch auch eine Rolle. Er beklagt zu hohe Kriminalität, beschreibt Mobbing durch Migranten in der Schulzeit und einen erlebten Banküberfall, bei dem zwar unklar bleibt, wer die Räuber waren, die Polizei ihm aber ihre Täterkartei vorlegte, die zu 90 Prozent nichtdeutsch gewesen sei.

Der 43jährige schreibt über ein Gespräch mit einem Jugendfreund: „Daher sagte ich, daß folgende Völker komplett vernichtet werden müssen: Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Syrien, Jordanien, Libanon, die komplette saudische Halbinsel, die Türkei, Irak, Iran, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Indien, Pakistan, Afghanistan, Bangladesh, Vietnam, Laos, Kambodscha bis hin zu den Philippinen.“

Deutsche Machtoptionen interessierten ihn nicht

Dies sind die Passagen, aus denen geschlossen wird, Rathjen sei ein rechtsextremer Täter. Ein stimmiges ideologisches Weltbild ist indessen nicht erkennbar. Denn die Ausrottungsphantasie beruht auf seinem Wahn, daß diese Völker die Welt daran hinderten, die „Lösung des Rätsels“ zu finden. Dieses sei: „Wie kann ein Universum entstehen, was hat es damit auf sich, wie kann Leben generell entstehen, wie konnte der Mensch entstehen, wo führt das alles hin …“

Unterschlagen wird auch, daß R. schreibt, um die Weltbevölkerung zu halbieren, würde er sofort einen Knopf drücken, gäbe es diesen – doch nur unter einer Bedingung: Daß der Tod „von einer Sekunde auf die nächste erfolgt“, da er kein „Interesse an einem Leid dieser Menschen habe“.

All das liest sich nicht nur wirr und erschreckend. Das Papier bleibt für ein „Bekennerschreiben“, wie viele Medien es bezeichneten, zu nebulös, denn an keiner Stelle erwähnt Rathjen, ein konkretes Massaker oder ein anderes Verbrechen zu planen.

Es sei „denkbar, daß es im Universum einen unendlichen Kreislauf des Lebens gibt“, schreibt der Autor weiter, „so daß ich in einem anderen Leben eben der Mensch bin, den ich heute vernichten will“. Er würde es dennoch tun, da es um das „ultimative Ziel“ gehe, „nämlich die ‘Lösung des Rätsels’.“  Zwar teilt er die Völker in solche, die für die Entwicklung der Menschheit viel geleistet hätten, wozu er ganz besonders die Deutschen zählt, und solche, die sich als zivilisatorisch unnütz erwiesen hätten und die er ausrotten will. Doch eine absolute Überhöhung des Deutschseins ist dies dennoch nicht, da er weiter schreibt, niemand solle glauben, „daß ein zufriedenstellender Zustand auf diesem Planeten erreicht wäre, wenn 500 Millionen Menschen germanischer Abstammung auf der Erde rumlaufen“.  Zudem überlegt er intensiv, wie die USA „einzige Weltmacht“ bleiben können, während ihn deutsche Machtoptionen nicht interessieren. 

Ideologisch paßt nichts, was Rathjen schreibt, zusammen. Dominiert wird das Papier des Massenmörders auf jeder Seite davon, ein Geheimdienst habe sein Gehirn besetzt. Die Analyse des BKA-Präsidenten, Holger Münch, wird daher nur schwer zu widerlegen sein. Er spricht von einer „schweren psychotischen Krankheit“.