© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Im Rennen gegen den Coronavirus liegt die Industrie zurück
Medikamentenmangel: Während Covid-19 auf immer mehr Europäer überspringt, werden die Wirkstoffe knapp
Christian Schreiber / Mathias Pellack

Die stockende Versorgung mit lebenserhaltenden Medikamenten sei kein nationales oder europäisches, sondern ein weltweites Problem, betont Frank Ulrich Montgomery von der Europäischen Ärztevereinigung in Brüssel. Eine Ursache liegt in der Herstellung der Arzneimittel.

Ein Großteil ihrer Wirkstoffe wird mittlerweile in China, Indien und Brasilien hergestellt. Geringere Kosten und weniger strenge Arbeits- und Umweltschutzauflagen haben zur Standortverlagerung in Schwellenländer geführt – wie in anderen Branchen auch. Und der derzeit vor allem in China grassierende Coronavirus (Covid-19) könnte die Situation noch verschärfen.

Sollte die Epidemie, die zum Redaktionsschluß bereits mittlerweile bei knapp 78.000 Chinesen nachgewiesen wurde, noch länger andauern, befürchten Vertreter der Pharmaindustrie einen Komplettausfall chinesischer Rohstoff- und Wirkstofflieferungen für die Medikamentenproduktion. Zum einen, weil Betriebe der Produktionskette unter Quarantäne gestellt werden könnten. Zum anderen weil die Nachfrage in China weiter ansteigen könnte.

Die Konsequenzen für Europa könnten angesichts des Ausbruchs in Italien, bei dem über 280 Menschen als infiziert gemeldet sind, verheerend werden. „Für manche Wirkstoffe, gerade im Bereich der Antibiotika, gibt es nur noch wenige Anbieter, meistens in China“, sagte Fabian Locher, Sprecher des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI), gegenüber der Deutschen Presseagentur.

Auch Antibiotika sind von Engpässen betroffen

Wenn Wirkstoffe in Asien nicht lieferbar seien, so Locher weiter, können Lieferengpässe auftreten. Es reicht dann nicht mehr, auf andere Medikamente umzustellen oder durch die Auflösung von Lagerbeständen die Knappheit zu überbrücken. Denn bei diesem Versorgungsmangel fehlen nicht nur einzelne Medikamente, sondern die Grundsubstanzen für die Wirkstoffe. Einen anderen Wirkstoff zu wählen, ist nicht immer möglich.

Für Cotrim-forte, ein Antibiotikum von Ratiopharm, ist seit dem 12. Februar 2020 ein Engpaß auf dem Pharmaindex „Gelbe Liste“ gemeldet. Das antibakterielle Medikament kann zur Unterstützung des Immunsystems auch bei Virenerkrankungen eingesetzt werden. Ratiopharm gibt an, daß die Knappheit bei Cotrim allerdings auf einen Mangel bei einem Konkurrenten zurückzuführen sei. Am 19. Februar folgte auch die Engpaßmeldung für die als Saft zu verabreichende Variante Cotrim-E.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist alarmiert: „Arzneimittelversorgung ist Grundversorgung. Hier muß der Staat funktionieren. Deswegen wird der Bund bei der Verteilung von Medikamenten stärker eingreifen als bisher“, sagte er dem Bayerischen Rundfunk.

Um Engpässe zu verhindern, will der Bundestag ein Gesetz mit Meldepflichten verabschieden: das „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“. Pharmaunternehmen und Großhändler sollen demnach Lagerbestände, Warenflüsse und drohende Lieferengpässe offiziell melden. Bundesbehörden müßten demnach künftig klare Vorgaben zur Lagerhaltung für kritische Arzneimittel machen.

Problematisch wird es vor allem dann, wenn ein Wirkstoff nur noch von wenigen Herstellern produziert wird. Wie zum Beispiel das Schmerzmittel Ibuprofen. Fünf Hersteller gibt es dafür. Sie beliefern den gesamten Weltmarkt.

Sparzwang und komplexe Lieferketten

Kommt es zu Verunreinigungen, Qualitätsmängeln, einem Stromausfall oder gar einem Erdbeben, bricht die globale Lieferkette zusammen. „Es betrifft uns in unserer täglichen Arbeit“, erklärt Stephan Hofmeister vom Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung. Ärzte müßten ihren Patienten erklären, warum sie die Medikation veränderten: „Das kostet Zeit, die in unserer Arbeit sehr wertvoll ist.“

Die Ursache für die Knappheit liegt vor allem im Preis. Vor allem Krankenkassen würden mit Arzneimittelherstellern Rabatte aushandeln. Durch die sei der Weg für die Produktion ins Nicht-EU-Ausland quasi vorgezeichnet. Die Kassen würden im Gegenzug den Versicherten geringere Beiträge versprechen. „Die finanziellen Aspekte dürfen nicht zu Lasten der Gesundheit gehen“, mahnt Spahn.

Auch aus Sicht von Experten sind komplexe Lieferketten für einen Teil der Schwierigkeiten verantwortlich. Diogo Piedade vom Generika-Herstellerverband „Medicines for Europe“ (ehemals „European Generics Medicines Association“) sprach gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit von einer einseitigen Fixierung auf den Preis, die Folgen habe: „Die Hersteller ziehen sich von verschiedenen Märkten zurück. Das wirkt sich auf das Angebot der Apotheken aus, wenn die Generika-Hersteller 70 Prozent der verschriebenen Medikamente liefern.“ Die EU hat mittlerweile angekündigt, mit China und Indien über eine verläßliche Versorgung mit Medikamenten in hoher Qualität zu diskutieren. Das Coronavirus erschwere die Gespräche jedoch.