© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Auf unteres Mittelmaß abgerutscht
Irre Vorstellungen einer schwarzen Pädagogik: Ein Psychiater diagnostiziert die Bildungskatastrophe
Dirk Glaser

Michael Winterhoff, Jahrgang 1955, praktiziert in Bonn als Psychotherapeut sowie als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als Mediziner scheint er sich auf den ersten Blick nicht gerade als Experte für Pädagogik im allgemeinen und schulische Erziehung im besonderen zu empfehlen. Und doch ist er vor zehn Jahren mit einem Buch bekannt geworden, das unter dem knalligen Titel „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (2009) zum Generalangriff auf die „antiautoritäre Erziehung“ blies. Dem hat er jetzt ein alarmierendes Werk folgen lassen, das dem bundesdeutschen Bildungssystem attestiert, „die Zukunft unserer Kinder“ zu verbauen.

Obwohl nach eigenem Eingeständnis pädagogischer Laie, fühlt sich Winterhoff zu dieser Attacke auf die Schul- und Bildungspolitik der Berliner Republik ermächtigt, weil er in seiner Praxis permanent mit deren Kollateralschäden konfrontiert ist: der steil ansteigenden Zahl verhaltensauffälliger Kinder. Dieses Phänomen war schon der Ausgangspunkt seiner 2009 geübten Kritik an der wahrhaft „schwarzen Pädagogik“ (Katarina Rutschky), die nach 1968 ihren Siegeszug antrat. Es etablierte sich nicht weniger als der „Wahnsinn mit Methode“.

Der wirkte sich zunächst in der Eltern-Kind-Beziehung aus. Hier habe eine in der „gesamten Menschheitsgeschichte einmalige“ Umkehr stattgefunden. Die Eltern sollen ihren Kindern nicht mehr sagen, wo es langgeht, ihnen keine Grenzen ziehen und Richtung geben. Sondern sich ihnen unterordnen, was schon auf die heutige Infantilisierung der Politik („Fridays for Future“) vorausweist. Es gebe daher „kein Korsett mehr für freiheitsliebende Kinderseelen“. Dabei höre sich das erziehungstheoretische Begleitorchester „wunderbar fortschrittlich und kinderfreundlich“ an. Von früh an, in Kindergarten und Grundschule, darf der Nachwuchs „frei von den Erwartungen der Erwachsenenwelt lernen und spielen“. Ein Konzept mit fatalen Folgen. Denn die nicht durch die Autorität von Erwachsenen geformte kindliche Psyche unterlasse wichtige Entwicklungsschritte ins selbstbestimmte Leben. Sie verharre auf dem Niveau des Kleinkindes, ohne soziale und emotionale Intelligenz, die sie nur im Umgang mit Normen und Werte vermittelnden Erwachsenen erwerben könne. Kurz: „Die Kinder bleiben dumm.“

Da in immer mehr Elternhäusern das „Korsett“ fehle, ruhte die Hoffnung auf orientierende Entwicklungshilfe lange auf Kindergarten und Schule. Aber auch dort, so bilanziert Winterhoff seine Erfahrungen „in Tausenden Gesprächen mit Lehrern, Schulleitern und Bildungspolitikern“, fänden Kinder kein Gegenüber mehr, das ihre Psyche entwickelt. Auch dort huldige man der „völlig irren Vorstellung“, daß Kinder die Partner der Erzieher sind. Das didaktische Wundermittel heiße „offener Unterricht“. Er habe den viel geschmähten lehrerzentrierten „Frontalunterricht“ durch „schülerzentriertes Lernen“ ersetzt, den Lehrer zum „Lernbegleiter“ degradiert. So mutierten Schulen, deren angeblich „autonom lernende“ Zöglinge faktisch „allein im Klassenzimmer“ sitzen, zu „Stätten des organisierten Verwahrens“ und seelischer Verwahrlosung.

Spätestens Mitte der 1990er sei die „Gleichwertigkeit“ von Kindern und Erwachsenen predigende, im Kern neoliberale 68er-Generation auf ihrem Marsch durch die Institutionen auf allen schulpolitischen Führungsebenen angekommen. Als 2001 die Pisa-Bombe platzte und im internationalen Vergleich offen zutage trat, daß nach diesem Auflösungsprinzip deutsche Schulen auf unteres Mittelmaß abgerutscht waren, wurde das Steuer keinesfalls herumgerissen. Nach dem sturen Motto „Nun erst recht!“ gestaltete sich die Schulpolitik vielmehr „vollends hysterisch und hektisch“. „In immer höherer Schlagzahl mußten die Kinder als Versuchskaninchen herhalten“.

Lichtblicke inmitten des Desasters 

Um ihre Pisa-Schlappe wettzumachen, schafften die Ideologen Noten ab, die Schreibschrift kam auf den Aussterbetat, ebenso das Diktat, die Schulempfehlung. Womit es immer tiefer in die Grütze ging. Wie auf allen anderen Politikfeldern, wo Medea-Merkel und das „breite Bündnis“ ihres Anhangs und ihrer Wähler „alternativlos“ auf dem „Weg des Frevels“ (Gustav Schwab) voranschreiten. Ebenso realitätsblind wie beratungsresistent gaben die mit allen vier Rädern im Schlamm versunkenen Bildungsfunktionäre denn weiter kräftig Gas. Mit dem famosen „Schreiben nach Gehör“, der Aufnahme von Inklusionskindern in ohnehin zu volle Klassen, mit der Einführung des auf acht Jahre verkürzten Wegs zum Abitur. Mit der permanenten Herabsetzung von Leistungsanforderungen, der Inflation von Bestnoten. Und mit dem verheerenden, Humboldts Ideal der Erziehung zum mündigen, sich seines eigenen Verstandes bedienenden Bürgers verabschiedenden Bildungsziel „Kompetenz“, das die „gesamte Bildungslandschaft auf Standardmaß einebnete“.

Dennoch will Winterhoff inmitten dieses Desasters Lichtblicke wahrnehmen. Wie in den 1970ern Eltern und Schülern der Mengenlehre den Stecker zogen, so habe ihr Widerstand gegenwärtig die Ideologen gezwungen, die gymnasiale Schulzeitverkürzung zu beerdigen und von G8 zu G9 zurückzukehren. Ob, wie von Winterhoff vorgeschlagen, ähnlich scharfer Gegenwind zu entfachen ist, um das jüngste Experiment, die „Digitalisierung des Unterrichts“, den „Digitalisierungswahn“ zu stoppen, bliebe skeptisch abzuwarten.  

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloher Verlagshaus, 2019, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro