© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Böser Mann im Kopf
Kino: „Der Unsichtbare“ von Leigh Whannell hat mit der H. G. Wells-Verfilmung von 1933 kaum mehr gemein als den Titel
Dietmar Mehrens

Langsam und vorsichtig, um ihren Peiniger ja nicht zu wecken, schiebt sie die Hand des neben ihr schlafenden Mannes von ihrem Bauch und schleicht sich aus dem Schlafzimmer. Schon die ersten Minuten von „Der Unsichtbare“ machen klar, warum die Kalifornierin Elisabeth Moss die Idealbesetzung für die Rolle der Cecilia Kass in dem Gruselschocker ist. Die erste Szene des Films schildert die nächtliche Flucht der von Moss Verkörperten aus der vornehmen Villa, in der sie wohnt, die sie aber als Gefängnis empfindet.

Die Szene könnte ohne substantielle Änderungen einer Folge der Fernsehserie „Der Report der Magd“ entstammen, die Moss berühmt gemacht hat. Die mehrteilige Verfilmung des gleichnamigen Romans von Margaret Atwood spielt in einer ökofaschistischen Diktatur, in der Frauen als Sexsklavinnen für eine dekadente Oberschicht gehalten werden.

Zur Oberschicht gehört auch der Mann, vor dem Moss in ihrem neuen Film fliehen will: Adrian Griffin (Oliver Jackson-Cohen), ihr Lebenspartner, ist ein Unternehmer, der durch ausgetüftelte optische Geräte reich geworden ist. Cecilia Kass fühlt sich jedoch in seiner Gegenwart nicht mehr wohl. Er übe, sagt sie, eine totale Kontrolle über sie aus.

Moss ist noch aus einem anderen Grund die ideale Wahl für die Hauptrolle: Ihr Gesicht wirkt von Natur aus, als würde sie der Welt mit größtmöglicher Skepsis begegnen – und diese ihr. Es eignet sich also perfekt für eine Frau, der man als Zuschauer mit zwiespältigen Gefühlen begegnet. Schon in der Anfangssequenz wird deutlich, daß man Cecilia nur bedingt trauen kann. Ihr wurde Diazepam verschrieben, ein Medikament gegen Paranoia und andere Angststörungen. Nachdem sie ihrem Partner erfolgreich entronnen ist – gemeinsam mit ihrer Schwester Alice (Harriet Dyer), ihrem Jugendfreund James (Aldis Hodge) und dessen Tochter kann sie untertauchen –, will sich bei Cecilia die erhoffte Erleichterung nicht einstellen. Und als der Verlassene sich umbringt und ihr eine Fünf-Millionen-Dollar-Erbschaft hinterläßt, wird es auch nicht besser. Im Gegenteil: Cecilia ist überzeugt, daß Adrian ihr nachstellt. „Er ist nicht tot“, behauptet sie unbeirrt, „ich kann ihn nur nicht sehen.“

Gespür für wirkungsvolle Bildkompositionen

Damit hat ein Spiel mit dem Zuschauer begonnen, das nicht ganz neu ist im Kino, das Autor und Regisseur Leigh Whannell aber mit großer Raffinesse und Gespür für wirkungsvolle Bildkompositionen inszeniert hat: Er läßt so lange wie möglich in der Schwebe, ob die offensichtlich Gestörte mit der Panik-Mimik von Elisabeth Moss sich die Bedrohung durch Adrian nur einbildet – oder ob man ihrer Version der Ereignisse vielleicht doch trauen sollte

Jeder kann sich ja mal selbst fragen, wie er reagieren würde, wenn er eine Frau, die unter Psychopharmaka-Medikation steht, an einem Restauranttisch einer anderen Frau gegenübersitzen sieht, der soeben die Kehle durchgeschnitten wurde, und die ihm dann mit blutigem Fleischermesser in der Hand weiszumachen versucht: „Ich war das nicht, das war mein verstorbener Mann, der mich als Unsichtbarer verfolgt.“ Andererseits ist im Hollywood-Kino ja vieles möglich, was es beim europäischen Autorenfilm nicht gibt.

Die besten Gruselfilme sind die, bei denen der Horror im Kopf entsteht. Wer das noch nicht wußte, weiß es spätestens seit dem sensationellen Erfolg der Amateurproduktion „Blair Witch Project“ von 1999. Auch in „Der Unsichtbare“ entsteht, was angesichts des Titels nicht überraschen kann, das eigentliche Grauen durch das, was man nicht sieht. Tentakelige Fleischberge, gallige Riesenechsen und mehrmäulige Weltraummonster muß der Zuschauer hier also nicht fürchten. 

Bis zur Filmmitte hält Whannell durch. Dann muß er allmählich Farbe bekennen und verraten, was hier wirklich gespielt wird. Dann zwingt ihn die Publikumserwartung doch zu einigen Schock- und Spezialeffektmomenten, die allerdings wohldosiert zum Einsatz kommen. Freunden des Altmodisch-Gediegenen, durch deren Gedächtnis vielleicht beim Erwerb der Kinokarte eine Reminiszenz an die Verfilmung des Romans von H. G. Wells aus dem Jahr 1933 zuckte, wird das dann womöglich nicht mehr so zusagen. Beide Filme teilen sich im Grunde nur denselben Titel.

Und mit der Komödie „Jagd auf einen Unsichtbaren“ von 1992 hat dieser „Unsichtbare“ noch weniger gemeinsam. Auch die Logik bleibt zum Ende hin zusehends auf der Strecke. Gleichwohl ist Whannell ein Film gelungen, der sich von Hollywood-Horror-Dutzendware wohltuend abhebt, weil er mehr auf Figuren als auf Tricktechnik setzt. Es ist eben auch im Digitalzeitalter noch ein Unterschied, ob das Mienenspiel einer begabten Mimin wie Elisabeth Moss den Grusel erzeugt oder ein seelenloser Computer.

Kinostart ist am 27. Februar