© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Aus Böhmens Hain und Flur
Vor 600 Jahren formierten sich tschechische Tobariten als religiöse und nationalistische Gemeinschaft
Karlheinz Weißmann

Tabor ist der Name eines Bergs in Galiläa, der sich abrupt aus der Fläche erhebt. Traditionell wird er mit dem Ort der Verklärung identifiziert, von dem in den Evangelien die Rede ist. Allerdings gibt es noch einen zweiten Tabor, im Süden Böhmens. Dorthin zogen vor sechshundert Jahren, im März 1420, Anhänger des Reformators Jan Hus und gründeten am Rand einer verfallenen Burg eine Siedlung, die sie Tábor nannten. Die Bezeichnung war programmatisch, insofern die Verklärung Christi traditionell als Vorwegnahme seiner Wiederkehr am Jüngsten Tag verstanden wurde.

Die Idee, daß die Endzeit unmittelbar bevorstehe, verband die Vorstellungswelt der verschiedenen hussitischen Strömungen, die nach der Verbrennung des Reformators 1415 während des Konzils von Konstanz entstanden. Anfangs ging es ihnen neben der Abschaffung der kirchlichen Mißstände vor allem um die Predigt in der Volkssprache und die Anerkennung des „Laienkelches“, das heißt der Austeilung der Kommunion in Brot und Wein. Daher rührte auch die Bezeichnung „Utraquisten“, weil die Hussiten die kirchliche Praxis ablehnten, der Gemeinde nur das Brot, dem Priester auch den Wein zu geben; sie verlangten die Teilhabe am Abendmahl in „beiderlei“ – lateinisch „utraque“ – Gestalt.

Relativ rasch zeigte sich allerdings, daß der von Hus gesetzte Impuls nicht auf Glaubensfragen beschränkt blieb. Den Hussiten ging es auch um nationale – vor allem gegen die Deutschen und Juden in Böhmen – gerichtete Forderungen, ihren bäuerlichen und armen Anhängern zudem um eine neue soziale Ordnung. Ein Gedanke, den sich besonders der radikale Flügel zu eigen machte, dessen Anhänger, aus ihren Heimatorten vertrieben, am neuen Tabor zusammenkamen. 

Sie wollten die Urkirche wiederherstellen und keine Kompromisse: keine Hierarchie, keine Trennung von Klerus und Laien, keine Heiligenverehrung, keinen Reliquiendienst, keine Stände, keine Steuern, keine Zinsen, keinen Privatbesitz, keine Eidesleistung. Der Enthusiasmus der Anfangszeit muß groß gewesen sein. Adelige und Handwerker, entlaufene Mönche und ungebildete Tagelöhner arbeiteten Seite an Seite, um eine Befestigungsanlage aufzubauen. Das schien den „Taboriten“ um so wichtiger, als sie in der Hauptstadt Prag, die unter der Kontrolle der Gemäßigten stand, die „Hure Babylon“ sahen und überzeugt waren, jene apokalyptischen Wehen zu spüren, bei denen die Heiligen Gottes sich auf die Berge retten und zur letzten Schlacht sammeln. 

Kaum Anhänger in anderen europäischen Ländern

Das erklärt auch die strenge Gemeindeordnung der Taboriten und das Tempo, in dem man mit dem Aufbau einer militärischen Organisation begann. Als im Sommer 1420 ein Heer des römisch-deutschen Königs Sigismund, der auch die böhmische Krone beanspruchte, auf Prag marschierte, vergaß man sogar die Streitigkeiten mit den Gemäßigten. Es kam zu einer Allianz. Tabór schickte Entsatztruppen, und gegen jede Erwartung wurde Sigismund geschlagen. Vier Jahre später war ganz Böhmen in der Hand der Taboriten. Nun begannen sie mit der Zerstörung all dessen, was sie als Hinweis auf Gottlosigkeit oder Ungleichheit betrachteten. Sie vernichteten Luxusgegenstände, brannten Klöster nieder, schändeten die Gräber von Königen. 

Gleichzeitig begann eine rabiate Verfolgung der Altgläubigen, aber auch derjenigen in den eigenen Reihen, die noch weitergehende religiöse Ideen propagierten, etwa die, in den Zustand vor dem Sündenfall zurückzukehren, unter Einschluß paradiesischer Unschuld, was die sexuellen Beziehungen anging. Gleichzeitig entlud sich die Energie nach außen. Hussitenverbände stießen über die Landesgrenzen bis nach Frankreich und Oberitalien vor. Aber in erster Linie war Deutschland betroffen. Die Effizienz und Grausamkeit der Kriegführung mit ihrem Einsatz von Feuerwaffen und Wagenburgen war neben dem ausgesprochen nationalistischen Zug des Hussitismus ein wesentlicher Grund dafür, warum die Bewegung außerhalb des tschechischen Raums kaum Anhänger fand.

Trotzdem blieb die Stellung Tabórs längere Zeit unangefochten. Das war in erster Linie Jan Žižka zu verdanken. Žižka, ein Berufskrieger aus verarmtem Adel, hatte sich Hus und dann den Taboriten angeschlossen, deren militärische Führung übernommen und den Sieg über das königliche Heer bei Prag errungen. Seine Erfolge trugen ihm den Ruf der Unbesiegbarkeit ein. Innerhalb der taboritischen Gemeinschaft konnte seine Autorität niemand in Frage stellen. Außerdem gehörte er zur provisorischen Regierung Böhmens, die König Sigismund für abgesetzt erklärte. 

Schon früh hatte Žižka ein Auge verloren, und während der folgenden Kämpfe büßte er auch sein zweites ein. Also führte er die Hussiten blind. 1424 kam er bei einer Belagerung ums Leben. Vor seinem Tod soll er befohlen haben, seinem Leichnam die Haut abzuziehen und mit ihr die größte Trommel des Heeres zu bespannen. Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine Legende, die aber wesentlich dazu beigetragen hat, daß Žižka für die tschechische Nationalbewegung zu einer emblematischen Figur wurde. Noch heute erhebt sich weithin sichtbar auf dem Veitsberg über Prag eine neun Meter hohe Reiterstatue aus Bronze, die ihn darstellt.

Bleibende Bedeutung für tschechischen Patriotismus

Um aus Žižka einen Helden ohne Fehl und Tadel machen zu können, mußte man viele seiner Wesenszüge verschweigen. Ähnliches gilt für die Geschichte der Hussiten im allgemeinen und der Taboriten im besonderen. An der bleibenden Bedeutung für den tschechischen Patriotismus ändert das nichts. Und selbstverständlich hat sich auch das kommunistische Regime nach dem Zweiten Weltkrieg gern auf diesen „Frühsozialismus“ berufen. Allerdings mußte man dabei die eigentliche, das heißt theologische Prägung ausblenden, vor allem die Naherwartung des Gottesreiches, das, was die Religionswissenschaft „Chiliasmus“ nennt. Deshalb ist einem Hinweis Erik von Kuehnelt-Leddihns Aufmerksamkeit zu schenken, der in den Taboriten eher ein Muster jener modernen Bewegung sah, die Sendungsbewußtsein, Nationalismus und Sozialismus zu einer Ideologie verknüpfte, die tatsächlich auf böhmischem Boden ihre erste parteimäßige Organisation fand: die 1897 gegründete Tschechische National-Sozialistische Partei (?eská strana národn? sociální).