© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Über die Sprengkraft einer Politik der Straße
Der Historiker Daniel Siemens legt seine Sicht auf die Geschichte der SA dar
Paul Leonhard

Die SA gilt als Symbol für die brutale Gewalt und den mörderischen Antisemitismus des Nationalsozialismus. Allerdings endet die Geschichte der 1921 als Unterorganisation der NSDAP gegründeten Sturmabteilungen für viele Deutsche mit der Ermordung von Stabschef Ernst Röhm und Mitgliedern der konservativen Parteiopposition 1934. Daß die SA aber bis zu ihrem Verbot 1945 weiterhin zu den zahlenmäßig mächtigsten Organisationen des Dritten Reichs gehörte und ihre Führung bestrebt war, nach einem deutschen Sieg nicht nur die „nationale Revolution“ zu vollenden und das Reich zum „größten Sozialstaat der Erde“ auszubauen, sondern auch in den eroberten Ostgebieten eine wichtige Rolle spielte, ist bisher wissenschaftlich kaum aufgearbeitet worden. 

Der in Newcastle lehrende Historiker Daniel Siemens zeichnet mit seinem Werk „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“, das eine überarbeitete Fassung seiner 2016 in Bielefeld eingereichten Habilitationsschrift darstellt und 2017 in englischer Sprache erschien, detailliert den Aufstieg und Fall der SA nach. Dabei widmet er ihrer Rolle während des Zweiten Weltkrieges besondere Aufmerksamkeit, auch wenn er seine These, nach der die SA bis Kriegsende eine, auch mit Blick auf andere NS-Organisationen, bedeutende Rolle gespielt habe, nicht wirklich belegen kann.

Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in Deutschland wolle er exemplarisch zeigen, schreibt er in seinem Vorwort, „welche Sprengkraft eine Politik der Straße entfalten kann, wenn sie tief sitzende Emotionen schürt, an traditionelle nationale und religiöse Überzeugungen anknüpft und vor allem vor dem Einsatz selbst massivster Gewalt nicht zurückschreckt“. Aufstieg und Niedergang der SA seien eine Geschichte voller Widersprüche, hochfliegender Hoffnungen und bitterer Enttäuschungen, extremer Gewalt, frustrierter Langeweile, schreibt Siemens. Die bisherige Geschichtsschreibung habe die Bedeutung der SA unterschätzt. 

Siemens nimmt für sich in Anspruch, „die Schieflage in der Forschung“, die er als „kumulative Banalisierung“ bezeichnet, zu korrigieren. Tatsächlich hat die SA, auch wenn sie 1946 vom Internationalen Militärgerichtshof nicht als verbrecherische Organisation eingestuft wurde, eine „wichtige Rolle bei der Organisation der Stabilisierung des NS-Herrschaft in Deutschland und in den besetzten Gebieten“ gespielt.

Zu den feinen Details, auf die Siemens hinweist, gehört, daß die nationalsozialistische SA eine Kopie der sozialdemokratischen Selbstschutzverbände war. Die erste Sturmabteilung war 1919 in Bayern aufgestellt worden, von Sozialdemokraten. Auch datiert Siemens die Gründung der nationalsozialistischen SA nicht, wie bisher üblich, auf den 11. August 1921, sondern auf den 12. November 1920, als sich die erste Turn- und Sportabteilung der NSDAP bildete.

Nach der Ermordung Röhms galt die SA, obwohl sie im August 1934 mit 2,9 Millionen Mitgliedern ihren Höchststand erreichte, als politisch kaltgestellt. Ins politische Spiel kam sie erst wieder kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als ihr per Führererlaß vom 19. Januar 1939 die vormilitärische Ausbildung der wehrfähigen deutschen Männer übertragen wurde. Mit der Einberufung knapp einer halben Million SA-Mitglieder im August und September zur Wehrmacht habe die SA zwar erneut an Bedeutung verloren, aber andererseits hätten die von den Ideen des Nationalsozialismus überzeugten SA-Männer entscheidend den „nationalsozialistischen Charakter“ des neuen deutschen Heeres geprägt, so Siemens. Nach seinen Angaben befanden sich Ende 1940 über fünfzig und im September 1943 bereits 75 Prozent aller einsatzfähigen SA-Männer im Kriegseinsatz. 

SA-Männer waren in der Gemeinde vertraute Figuren

Besondere Aufmerksamkeit widmet Siemens dem Engagement der SA im Generalgouvernement. Weil hier die 11.000 Polizisten gerade noch in der Lage waren, die öffentliche Ordnung in Krakau, Warschau und einigen kleineren Städten aufrechterzuhalten, wurden alle ansässigen deutschen Männer  zum Dienst in den ab April 1942 aufgestellten SA-Wehrbereitschaften verpflichtet, die im Juni in Warschau bereits eine Stärke von 8.000 und in Radom von 12.000 Mann hatten. Siemens schätzt die Gesamtzahl der Ende 1942 in den SA-Wehrbereitschaften organisierten Volksdeutschen auf mindestens 30.000 bis 40.000 Mann. Unterstellt waren diese allerdings der regulären Polizei oder der SS. Auch ein Randkapitel in der Geschichte der SA beleuchtet Siemens detailliert: die Entsendung von fünf SA-Generälen nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und die Slowakei, wo sie als deutsche Diplomaten vor allem die Liquidierung der dortigen Juden umsetzen sollten.

Ärgerlich ist die Behauptung von Siemens, daß die SA „mit kämpfenden Einheiten“ am Zweiten Weltkrieg teilgenommen habe. Die als Pendant zur SS-Leibstandarte Adolf Hitler geformte SA-Standarte Feldherrnhalle bildete keine Personalunion mit der gleichnamigen Division, und als sich SS-Reichsführer Heinrich Himmler 1944 bereit erklärte, die 18. Waffen-SS-Division Horst Wessel bevorzugt aus SA-Männern zu bilden, fanden sich kaum Freiwillige, so daß auf Ungarndeutsche zurückgegriffen werden mußte. Daß Fallschirmjäger mit SA-Vergangenheit in Griechenland und Süditalien kämpften, bedeutet nicht, daß es sich um SA-Einheiten handelte, zumal die Mitgliedschaft in der SA für die Zeit des Wehrdienstes ruhte. Siemens legt hier eine falsche Spur.

Die SA hat das Leben von Millionen deutscher Männer und ihrer Familien bis Kriegsende geprägt, resümiert Siemens: „Während die meisten Deutschen zur SS, zum SD oder zur Gestapo keine persönlichen Kontakte unterhalten hatten, waren die SA-Männer in der Gemeinde vertraute Figuren gewesen – als Nachbarn, Arbeitskollegen.“ Kameradschaftstreffen analog den ehemaligen Waffen-SS-Soldaten hielten die ehemaligen SA-Männer nach 1945 nicht ab, da ihre „gesellschaftlichen und persönlichen Netzwerke“ gerade in Kleinstädten und auf dem Land in anderer Form Bestand hatten und diese Personen sich in den in die SA eingegliederten Schützen-, Reit- und Sportvereinen trafen: „Über Krieg wurde erzählt, nicht aber vom freiwilligen Dienst im braunen SA-Hemd.“

Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA. Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 592 Seiten, Abbildungen, 36 Euro