© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Knapp daneben
Balsam für die Menschenwürde
Karl Heinzen

Historikern zufolge gab es eine Zeit, in der bundesdeutsche Arbeitslosenstatistiken eine Aussagekraft hatten. Wurde eine neue veröffentlicht, nahm man sie als belastbaren Ausgangspunkt, um darüber zu diskutieren, wie mehr Menschen in Beschäftigung kommen könnten. Irgendwann jedoch verlor die Bundesregierung die Lust, für etwas verantwortlich gemacht zu werden, was gar nicht sie, sondern der Arbeitsmarkt in Ordnung zu bringen hätte. Seither erfaßt die Arbeitslosenstatistik nicht mehr jene Menschen, die arbeitslos sind, sondern im Sinne der Sozialgesetze als solche gelten. In deren Paragraphendschungel findet sich in Deutschland aber nur eine überschaubare Zahl von Experten zurecht.

Einer Bundestagsanfrage der Linken ist es nun zu verdanken, daß auch die Öffentlichkeit wieder einmal einen Eindruck davon gewinnen kann, was die Arbeitslosenstatistik alles ausklammert.

Vor ein paar Jahren hieß es noch, unsere Wirtschaft könne auf die Erfahrungen der Alten nicht verzichten.

In der vergangenen Dekade sind die Behörden dazu übergangenen, Menschen jenseits des 58. Lebensjahres, die über zwölf Monate Grundsicherung für Arbeitssuchende erhalten haben, ohne daß ihnen jemand einen Job angeboten hätte, nicht weiter als Langzeitarbeitslose zu zählen. 2009 blieben bloß 22.000 Menschen dank einer derartigen behördlichen Entscheidung statistisch unberücksichtigt. 2019 waren es bereits über 170.000. Für die Betroffenen ist dies Balsam auf die lädierte Menschenwürde. Alt zu werden ist bereits frustrierend genug. Wer dann auch noch als langzeitarbeitslos gilt, könnte sich leicht als doppelt nutzlos vorkommen. Im statistischen Nirwana hingegen läßt es sich mit erhobenem Haupt leben. Einerseits darf man sich als Privatier fühlen, der frei von der Furcht ist, eigene Rücklagen aufzuzehren, weil diese gar nicht vorhanden sind. Andererseits bleibt man ein „High Professional“, der nur deshalb nicht zum Zuge kommt, weil sich niemand seine Dienste leisten kann. Aufatmen dürfen aber auch jene, die ihr Karriereweg noch nicht an dieses Ziel geführt hat. Vor ein paar Jahren hieß es noch, unsere Wirtschaft könne auf die Erfahrung der Alten nicht verzichten. Diese Drohung steht nicht mehr im Raum.