© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Der Flaneur
„Dreimal hoch!“
Paul Leonhard

Die gute Stube ist kleiner, als ich es in Erinnerung habe. An den billigen Druck über der Couch kann ich mich noch entsinnen. Wie lange war ich nicht mehr hier, 15, 20 Jahre? Jetzt ist die Bude voll: Diesmal haben die Enkel zur Geburtstagsfeier ihres Großvaters eingeladen. Und da sie extra aus Hamburg nach Dresden gereist sind, muß sich das auch lohnen. Also die bucklige Verwandtschaft, ich gehöre mit Anhang dazu, zusammentelefoniert. Egal, ob es dem Jubiliar paßt oder nicht, da muß er jetzt durch mit seinen nun 85 Jahren.

Jetzt bloß kein Familienstreit um Politik, dafür sieht man sich zu selten.

Onkel Paul, der 97jährige frühere Fallschirmjäger, erzählt aus seiner Zeit als selbständiger Handwerker in der DDR; und von seinen neuesten Abenteuern. Seit seine Frau dement im Heim liegt, fährt er viel mit dem Bus und steigt an ihm unbekannten Stationen aus. Um die Gegend zu erkunden, wie er sagt. Zu seinem Pech hatten die Verkehrsbetriebe unlängst Nummern und Fahrstrecken im Linienverkehr verändert. Aber den Busfahrer habe er schließlich wiedererkannt – und der ihn, erzählt er. Es war eben ein deutscher Fahrer. Die Pointe sitzt: Zur Zeit wirbt Dresden in Serbien um Fahrer. Kenntnisse der deutschen Sprache sind keine Bedingung, nur der Führerschein. Der Alte blinzelt listig. 

Eine Tante schnappt nach Luft: „Das ist doch ...“ „Sei du bloß still“, fährt ihr eine andere über den Mund. Die Ehefrau des Geburtstagskindes erkennt die Gefahr. Kein Streit auf der Familienfeier, dazu sieht man sich zu selten. „Jetzt trinken wir ein Schnäpschen. Allgemeines aufatmen. Der Jubilar holt die gute Cognacflasche aus dem Schrank und schenkt die Gläser ein. Klirrend stoßen die Gläser aneinander. „Sollen wir?“ „Nein, um Gottes willen.“ Aber dann doch. „Hoch soll er leben“ erklingt. Die Kinder schauen verblüfft. Die Erwachsenen singen „Dreimal hoch!“ im Chor. Die Kleine läßt vor Schreck ihren roten Luftballon als unfreiwilligen Abschluß platzen.