© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

Angriff auf Europa
Türkei/Griechenland: Die Migrationskrise ist wieder da – und war nie wirklich weg
Michael Paulwitz

Europa steht wieder unter Belagerung. Zehntausende Migranten rennen zu Lande und zu Wasser gegen die griechischen Grenzen an und begehren Einlaß. Ihr offensichtliches Ziel: Das Sozial-

leistungswunderland Deutschland. 

Die Migrationskrise ist wieder da. Tatsächlich war sie nie verschwunden. Nur die Aggressivität, mit der Migranten nach Europa drängen, ist wieder gestiegen. Und je phrasenhafter die politisch Verantwortlichen beteuern, die Situation von 2015 werde sich nicht wiederholen, desto beklemmender wird der Eindruck: Es könnte noch schlimmer werden.

Der fragwürdige Kuhhandel mit der Türkei – Milliardenzahlungen gegen Zurückhalten der Migrantenströme –, von dem Bundeskanzlerin Angela Merkel sich Entlastung der ausufernden Folgen ihres Willkommensrufs erhofft hatte, hat nie wirklich funktioniert. Jetzt ist er ganz offiziell tot. Denn jetzt betätigt sich die Türkei selbst ganz unverhohlen als Schleuserstaat. Auf Geheiß von Staatschef Erdo?an werden Migranten busladungsweise an die griechische Grenze verfrachtet, um die EU und insbesondere Deutschland unter Druck zu setzen. 

Griechenland – das ist anders als 2015 – leistet diesmal erbitterten Widerstand. Es verteidigt seine Grenzen, zu Land und auf See. Für Athen ist der Asylansturm ein Angriff des schwierigen Nachbarn Türkei, den es sich nicht bieten lassen will. Das ist auch im Sinne der griechischen Bürger, deren Geduld offenkundig erschöpft ist. Bauern blockieren Zufahrten zu Asyl-Sammellagern, Bewohner der griechischen Inseln packen selbst mit an, um Migrantenbooten die Landung zu verweigern, und applaudieren, wenn Polizei und Militär diese zurückschicken.

Griechenland nimmt damit die unschönen Bilder in Kauf, die Angela Merkel sich vor fünf Jahren mit ihrer willkürlichen Grenzöffnung ersparen wollte. Statt Dank ernten die Griechen dafür Kritik vor allem aus etablierten deutschen Medien, in denen das vermeintlich brutale Vorgehen der griechischen Sicherheitskräfte angeprangert und griechische Bürger, die zur Selbsthilfe gegen illegale Einwanderer und NGO-„Flüchtlingshelfer“ greifen, pauschal als „Rechtsextremisten“ diffamiert werden.

Die Verstimmung ist wechselseitig. Griechische Stimmen kritisieren die unentschlossene deutsche Haltung, die von ihrem hohen moralischen Roß nicht absteigen will. Merkel ermuntere die Migranten nach wie vor, nach Europa zu kommen, und Griechenland müsse das ausbaden, heißt es. Offiziell lehnt die Union die Aufnahme der illegalen Einwanderer noch ab. Aber anders als etwa Österreich oder auch Frankreich sendet Berlin keine klaren Solidaritätssignale an Griechenland. 

Und von grün-linker Seite und aus der Asyl-Lobby wächst der Druck, wieder aus „humanitären“ Gründen nachzugeben und die fälschlich als „Flüchtlinge“ etikettierten Migranten, die sich samt und sonders in der Türkei bereits in Sicherheit befinden, doch aufzunehmen.

Dazu kommt mediale Stimmungsmache. Während ausländische und unabhängige deutsche Medien bürgerkriegsähnliche Szenen zeigen, in denen wutgepeitschte junge Männer mit Steinen, Tränengas und „Allahu akbar“ die EU-Außengrenze zu stürmen versuchen, stellen Deutschlands etablierte Medien mitleiderregende – mitunter sogar gestellte – Bilder von weinenden Kindern und Müttern. Es wird manipuliert wie 2015 – das seinerzeitige Eingeständnis selektiver Bildauswahl durch „ARD aktuell“-Chefredakteur Kai Gniffke hat offenkundig nicht gefruchtet. Formal kritisiert die Kanzlerin das Vorgehen des türkischen Präsidenten. Tatsächlich scheint sie mit der Andeutung, es könne zusätzliche Hilfen für die Türkei geben, bereits ihr Einknicken vorzubereiten. Das ist fatal, denn wer ein ums andere Mal der Erpressung nachgibt, wird ständig mit höheren Forderungen konfrontiert werden.

So offenbart die neuerliche Migrationskrise vor allem eines: Es war von Anfang an ein Fehler, die Kontrolle der Migrationsströme nach Europa einem ausländischen Herrscher anzuvertrauen, noch dazu einem unberechenbaren wie Recep Tayyip Erdo?an. Dem türkischen Präsidenten geht es nämlich nicht nur um Geld, sondern auch um Unterstützung für sein Kriegsabenteuer im nördlichen Syrien. Auch um diese zu erzwingen, setzt er skrupellos die Migrationswaffe gegen Europa ein. Dabei instrumentalisiert er Flüchtlingsströme, die er durch seine völkerrechtswidrige Militärintervention selbst zu verantworten hat; und er nutzt die Gelegenheit, um illegale Migranten loszuwerden, die die Türkei als Transitland benutzen wollten und dort hängengeblieben waren.

Daß die Nato sich in dieser Situation trotzdem hinter ihren „Verbündeten“ Türkei stellt, ist ein fatales Signal und schadet deutschen Interessen. Nähme die Nato ihre eigenen Grundsätze ernst, müßte sie Erdo?an unmißverständlich bedeuten, daß ein eigenmächtig vom Zaun gebrochener und durch kein internationales Mandat gedeckter Angriffskrieg niemals einen Bündnisfall begründen kann.

Im deutschen Interesse wäre es, Erdo?ans Erpressungsversuch klar zurückzuweisen und von ihm zu verlangen, seine Unterstützung islamistischer Aufrührer in Syrien zu beenden. Im deutschen Interesse wäre es weiter, die Verteidigung der EU-Außengrenzen zur eigenen Sache zu machen und Griechenland dabei jede nur mögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa ist es verhängnisvoll, daß Deutschland als immer noch stärkste Wirtschaftsmacht der EU sich hinter kleineren und exponierteren Mitgliedstaaten versteckt und sich weigert, die ihm zukommende Vorreiterrolle zu übernehmen.