© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

„Grenzkontrollen, die keine sind“
Fast fünf Jahre Zeit hatte die Politik, um sich auf die nächste Asylkrise vorzubereiten, doch passiert ist nichts, kritisiert der Europarechtler Ulrich Vosgerau und warnt: Bei einer neuen ‘Völkerwanderung’ heiße es dann erneut: „Nun sind sie halt da“
Moritz Schwarz

Herr Dr. Vosgerau, droht uns ein neuer Asylsommer 2015 oder ist diese Krise „morgen“ schon wieder vorbei?  

Ulrich Vosgerau: Beides ist möglich, denn ganz sicher glühen derzeit die Drähte, um Erdo?an zu beschwichtigen. Aber ob das gelingt? Doch selbst wenn – die Krise ist damit nicht vorüber.

Warum nicht?

Vosgerau: Weil, falls Erdo?an – gegen viel Geld und vor allem, denn darum geht es ihm meiner Ansicht nach tatsächlich, Unterstützung für seine Syrienpolitik – die Pforten schließt, die Krise lediglich beruhigt wäre. Denn Ankara kann die Tore jederzeit wieder öffnen! Gerade wenn man stets postuliert, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hätte man deshalb in den knapp fünf Jahren seitdem handeln müssen, um dieses Versprechen auch einhalten zu können. 

Was genau meint „handeln“? 

Vosgerau: 2015 waren wir kaum in der Lage, die deutsche Grenze zu kontrollieren, da das dafür nötige Personal und die Einrichtungen abgebaut worden waren. Seitdem hätte das geschaffen werden können. Doch nichts ist passiert. 

„Nichts“ stimmt nicht. Immerhin haben wir einen für uns vorteilhaften Vertrag mit Premierminister Erdo?an geschlossen.

Vosgerau: Irrtum – dieser angebliche „Vertrag“ ist gar kein Vertrag im eigentlichen, also völkerrechtlichen Sinne, sondern eben nur ein Türkei-„Deal“. Sprich, eine unverbindliche Absprache zwischen Ankara und Brüssel, in der die Partner lediglich das Ziel benennen, ihre „flüchtlingspolitischen Maßnahmen aufeinander abstimmen“ zu wollen. Und deren medienwirksame Verkündung im März 2016 war auch kein Rechtsakt, sondern nichts weiter als eine simple gemeinsame Presseerklärung. 

Warum ist dann dennoch immer wieder auch von Erdo?an Vertragsbruch die Rede? 

Vosgerau: Zum einen, weil die Bundesregierung es verstanden hat, unterschwellig den Eindruck eines Vertagsabschlusses zu erwecken. 2016 gab es diesen enormen öffentlichen Druck, etwas müsse geschehen, und so mußte – da sich die Kanzlerin standhaft weigerte, die Grenze zu sichern – etwas her, was nach einer „europäischen Lösung“ aussah. Zum anderen, weil viele Journalisten die Feinheiten der internationalen Diplomatie, wo stets mit vielen Worten nichts gesagt wird, nicht durchdringen und auch nicht kritisch nachgefragt haben. 

In Ihrem Buch „Die Herrschaft des Unrechts“ haben Sie die Asylkrise von 2015 und die Zeit danach analysiert. Was hat die Krise damals möglich gemacht – vor allem aber, wurde dieses Problem behoben? 

Vosgerau: Die Krise wurzelt in einem grundlegenden Widerspruch, den die EU einerseits durch das Schengensystem, andererseits durch ihre Asylgesetzgebung geschaffen hat: Der Vertrag von Schengen, also grenzfreier Waren- und Personenverkehr, wurde 1985 geschlossen, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, als Osteuropa und damit auch die heutige Balkanroute durch den Eisernen Vorhang völlig abgeriegelt waren. Schengen wurde also in einer ganz anderen geopolitischen Situation, in einer ganz anderen EU – die übrigens noch EG, Europäische Gemeinschaft, hieß – und eigentlich für den Raum Deutschland, Frankreich und Benelux-Staaten geschaffen. Solange alles gutgeht, ist der Wegfall von Grenzkontrollen für Bürger und Wirtschaft bequem. Da langfristig aber nie alles gutgeht, gilt allgemein: der Wegfall von Grenzkontrollen löst kein Problem, schafft aber Probleme, die zudem dann schwer zu revidieren sind.

Inwiefern? 

Vosgerau: Mit dem Wegfall aller Grenzkontrollen im europäischen Binnenraum ist es wie mit dem Euro: der grenzüberschreitende Austausch wird dadurch zwar erleichtert und gefördert, er würde allerdings auch ohne diesen gut funktionieren. Schließlich entwickelte sich ebenso das deutsche, auf Export basierende Wirtschaftswunder, wie auch die Nachkriegsreisewelle und die ganze Entwicklung hin zum Massentourismus trotz regulärer Grenzkontrollen. Ein gesamteuropäisches Asylsystem ist jedoch ohne systematische Grenzkontrollen nicht durchführbar. Denn das Prinzip, daß jeder Asylbewerber zunächst im für ihn zuständigen Ersteinreisestaat zu bleiben hat und nicht auf eigene Faust in den deutschen Sozialstaat oder zur Familie reisen darf, kann ohne diese faktisch nicht durchgesetzt werden. Kommt es darüber hinaus zu einem echten Notstand wie in der Völkerwanderung von 2015/16, zeigt sich der Staat hilflos: die Grenzsicherungsanlagen sind abgebaut, das geschulte Personal kaum mehr vorhanden. Dann kommt es gar nicht darauf an, was im Grundgesetz oder im Asylgesetz steht, oder was gemäß dem seit dem 13. September 2015 geltenden „Schengen-Notstand“ rechtlich eigentlich an den Binnengrenzen passieren müßte: der Staat kann es faktisch nicht mehr durchsetzen. Nur den Neuankömmlingen Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz auszahlen, das kann er noch – bis auf weiteres.

Warum hat die Unvereinbarkeit von Schengensystem, also Reisefreiheit, und EU-Asylsystem erst 2015 zum Kollaps geführt? 

Vosgerau: Fachleuten war spätestens seit 2011 klar, daß das Schengensystem gescheitert war. Denn in diesem Jahr urteilten erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dann auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, daß es verboten sei, Asylbewerber zuständigkeitshalber in das Ersteinreiseland Griechenland zurückzuschieben – da sie dort menschenunwürdig behandelt würden. Ein auch nur zeitweiliger Ausschluß Griechenlands aus dem „Gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, den der Lissabon-Vertrag proklamiert, wurde jedoch nie erwogen (ebensowenig wie aus dem Euro). Funktioniert aber die Rückführung nicht, geht die Zuständigkeit für solche Asylbewerber aus Griechenland offiziell auf Deutschland über, da braucht dann niemand unterzutauchen. Auf EU-Ebene dient das Recht oft nicht dazu, gegebene Tatsachen vernünftig zu regeln, sondern es soll Utopien herbeizwingen. Das geht zwar nicht – kostet aber und richtet Schäden an. 

Sie haben deshalb 2018 in Karlsruhe gegen das Verhalten der Bundesregierung von 2015 geklagt. Warum haben sich daraus keine Konsequenzen ergeben, die es nun, da sich die Krise wiederholen könnte, der Bundesregierung schwerer machen, sich wieder so zu verhalten wie 2015?  

Vosgerau: Nicht ich habe geklagt, denn es gibt in Deutschland keinen einklagbaren Anspruch der Bürger auf Befolgung der Gesetze durch den Staat. Den kann höchstens ein Staatsorgan geltend machen – dachte ich. Und so habe ich 2018 nicht persönlich, sondern als Prozeßbevollmächtiger der AfD-Bundestagsfraktion geklagt. Die das wiederum als Teil des Parlaments und „prozeßstandschaftlich“ für den gesamten Bundestag als Verfassungsorgan getan hat. Doch wurde die Klage als unzulässig abgewiesen. Offenbar hat also für Karlsruhe noch nicht einmal der Bundestag ein Recht – zumindest nicht im Rahmen der Organklage –, die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns prüfen zu lassen!

Das klingt, als zweifelten Sie daran. 

Vosgerau: Es gibt eben einen Präzedenzfall: 1984 wurde eine Klage der grünen Bundestagsfraktion ausdrücklich für zulässig erklärt, mit der diese überprüfen wollte, ob das Handeln der Bundesregierung – US-Atomraketen im Rahmen der Nachrüstung ohne Bundestagsbeschluß aufstellen zu lassen – grundgesetzkonform sei. Also: gleiche Konstellation – aber gegenteilige Entscheidung. Für die Grünen müßte man arbeiten!

Wie hat das Bundesverfassungsgericht das begründet? 

Vosgerau: Gar nicht, es hat so getan, als sei die Unzulässigkeit der Grenzöffnungsklage selbstverständlich. Daher mußte die Bundesregierung noch nicht einmal eine Klageerwiderung einreichen, was nur bei Einstimmigkeit im Senat möglich ist. Dabei bestand das Hauptziel des Verfahrens eigentlich darin, die Bundesregierung zu einer rechtlichen Erklärung zu zwingen: warum glaubte sie, sich über das Grundgesetz, das Asylgesetz und übrigens auch das Paßgesetz einfach hinwegsetzen zu dürfen? Zwar ist das Bundesverfassungsgericht berechtigt, seine Rechtsprechung gelegentlich zu ändern, wir haben keine formelle Präzedenzbindung wie in den USA. Doch man würde erwarten, daß eine solche Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten der Opposition offengelegt und verfassungsrechtlich begründet wird!

Konnte die Bundesregierung sich nicht auf europäisches Asylrecht berufen, das die deutschen Gesetze überlagert und eine Zurückweisung an der Grenze ausschließt?

Vosgerau: Dies behaupten in der Tat einige Asylrechtler; die Bundesregierung selbst hat sich diese Variante nie zu eigen gemacht. Auf dem Höhepunkt der Asylkrise hieß es ein gutes halbes Jahr lang, es müsse jeder hereingelassen werden, weil das Asylrecht des Grundgesetzes „keine Obergrenze“ kenne. Das ist Unsinn, denn nach dem Grundgesetz könnte ohnehin niemand asylberechtigt sein, der aus sicheren Drittstaaten auf dem Landweg einreist. Jedenfalls seit der Wiedereinführung der Grenzkontrollen am 13. September 2015 müßte jeder zurückgewiesen werden; die genannte Theorie verkennt unter anderem den Unterschied zwischen dem Schengen-Normalzustand vor dem 13. September 2015 und dem an diesem Datum vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière proklamierten Schengen-Notstand, der bis heute gilt. 

Und macht der geltende Schengen-Notstand eine Wiederholung der Situation von 2015 unmöglich? 

Vosgerau: Rechtlich ja, faktisch nein. Schengen-Notstand bedeutet, daß Grenzkontrollen nach nationalem Recht  wiedereingeführt werden und damit alle Asylbewerber und sonstige Migranten an der Grenze zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzuweisen sind. Das ist aber nie durchgreifend passiert; aus der Bundespolizei höre ich, sie könnten es personell nicht, und es wird auch nichts getan, damit sie es irgendwann wieder kann. Es gibt ja keine Grenzsicherung. Käme eine Völkerwanderung – so wäre sie, nach Merkel-Manier, „halt da“.

Sollte es keine Einigung mit Erdo?an geben und sich erneut Marschkolonnen auf den Weg machen und Deutschland erreichen: Sind diese Menschen dann Grenzverletzer, die rechtsstaatlich gesehen abgewiesen werden müssen oder Bedürftige, denen ein Rechtsstaat helfen muß? 

Vosgerau: Solange Grenzkontrollen durchgeführt werden, dürfen Asylbewerber, die auf dem Landweg einreisen wollen, nicht durchgelassen werden. In rund achtzig Prozent der Fälle käme es aber gar nicht auf die entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes wie des Asylgesetzes an, da ohne Rücksicht auf die Asylfrage schon nicht eingelassen werden dürfte, wer keinen Paß und kein Schengen-Visum hat.

Immer wieder wird argumentiert, „Flüchtlinge“ abzuweisen sei grundgesetzwidrig, da Artikel 1 zur Wahrung der Menschenwürde verpflichte. Ist das juristisch stichhaltig?

Vosgerau: Richtig ist, daß die Bindung an die Menschenwürde nicht nur in Deutschland gilt, sondern auch für deutsche Amtsträger im Ausland oder wenn deren Handlungen aus Deutschland quasi „hinausstrahlen“. Doch auch hier gilt wieder mal: wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, wie Österreich oder der Schweiz, kommt aus einem sicheren Drittstaat, wo seine Menschenwürde nicht bedroht wird. 

Wie verträgt es sich mit der Garantie der Menschenwürde, daß wir Griechenland quasi mit „beauftragt“ haben, seine Grenze als EU-Außengrenze für uns mit zu schützen? 

Vosgerau: Der EU-Außengrenzschutz beruht darauf, daß Asylbewerber in die EU-Grenzländer als ihre Erstaufnahmestaaten einreisen können und daß dort in einem zweistufigen Verfahren geprüft wird, ob wirkliche Verfolgung vorliegt und sie Asyl bekommen, oder, wenn das nicht der Fall ist, etwa in die Türkei zurückgeführt werden. 

Aber griechische Sicherheitskräfte wehren dieser Tage Grenzverletzer gewaltsam ab.

Vosgerau: Das dürfen sie auch zunächst einmal. Jeder Staat hat das Recht, seine Grenze vor illegalen Übertritten oder gar Gewalttätern, notfalls auch mit dem Einsatz angemessener Gewalt, zu schützen. Das Recht auf Prüfung des Asylanspruches bedeutet ja nicht, daß man mit einem Rammbock einen Grenzzaun zerstören und staatliche Ordnungskräfte mit Steinen bewerfen darf.

Laut Deutschlandfunk ist eine kollektive Abwehr wie an der griechischen Grenze „Rassismus“.

Vosgerau: Nein, es ist Notwehr. Der berechtigte Kern einer solchen Fundamentalkritik dürfte jedoch sein: Würden die Griechen als Ersteinreisestaat denn derzeit den Asylanspruch von Menschen prüfen, die massenhaft von Ankara an die Grenze transportiert werden, sich dann aber friedlich vorstellen? Der Asylprüfungsanspruch im Ersteinreisestaat funktionierte bislang ja oft vor dem Hintergrund, daß etwa Italien oder Griechenland die Leute im Vertrauen darauf einreisen lassen konnten, daß diese früher oder später eigeninitiativ nach Deutschland oder Skandinavien weiterreisen. Sowie daß – weil die rechtzeitige Rückführung sowieso nicht gelingt – die Asylzuständigkeit dann auf diese Länder übergeht. Spanien hingegen hat seine afrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla immer schon massiv gesichert. Ungarn hat unter heftigem Protest aus Deutschland und Österreich auf eigene Kosten einen Grenzzaun zu Serbien gebaut, der nicht in erster Linie die Ungarn selbst von illegaler Einwanderung schützt – denn kaum ein Asylbewerber, kaum ein Migrant würde ausgerechnet in Ungarn bleiben wollen, schon weil er dort weder Landsleute noch Verwandte hat –, sondern vor allem Deutschland. Viele Europarechtler halten den aber für illegal.          






Dr. Ulrich Vosgerau, der gebürtige Holsteiner und habilitierte Staats-, Völker- und Europarechtler lehrte unter anderem an den Universitäten Köln, München und Passau. 2015 erschien im Cicero sein Aufsatz „Die Herrschaft des Unrechts“, dessen Titel Horst Seehofer popularisierte und den auch sein Buch (2018) zur Asyl- und Verfassungskrise sowie der Rolle der Medien trägt.  

Foto: Migranten an der türkisch-griechischen Grenze Ende Februar: „Selbst wenn Erdo?an einlenkt, ist die Krise damit nicht vorüber. Jederzeit kann er die Tore wieder öffnen ... Die Krise wurzelt in einem grundlegenden Widerspruch des Schengen- und des EU-Asylsystems ... In der EU dient Recht nicht dazu, Tatsachen zu regeln, sondern Utopien herbeizuzwingen“

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